Ausgabe 18 - 1998berliner stadtzeitung
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Bücher - auf Papier und CD-ROM

Unser Special anläßlich der Frankfurter Buchmesse

Bibliophile CDs

Die "digitale Bibliothek". Hilfsmittel zum Erschließen von Literatur.

Unter Büchern wird längst nicht mehr nur ein Haufen zusammengefaßter Seiten zwischen zwei Buchdeckeln verstanden. "Elektronische Bücher" sind mittlerweile als CD-ROM zu erwerben. Welche Vorteile bieten sie, abgesehen davon, daß in ihnen eine kleine Bibliothek auf den engen Raum einer Silberscheibe zusammengedrängt werden kann?

Seit einem Jahr gelingt es der "Digitalen Bibliothek" eines Berliner Verlages, mit ihren Editionen Aufmerksamkeit zu erregen. Die erste Ausgabe präsentierte "Deutsche Literatur von Lessing bis Kafka". Eine Best-of-Sammlung "schöner Stellen", die die Werke verhackstückt? Solche Befürchtungen erweisen sich als unbegründet. Die CD enthält 58 klassische deutsche Autoren mit ihren ungekürzten Haupt- und den wichtigsten Nebenwerken. Daß es den Machern der Ausgabe ausschließlich um die Literatur und die Möglichkeit geht, sie mittels EDV zu erschließen, zeigt die Tatsache, daß auf multimediale Effekte verzichtet wurde: Es sind hauptsächlich die Texte, die den Speicherplatz einnehmen. Texte, die zusammengefaßt immerhin 300 Bände im Bücherregal ergeben würden.

Das allein wäre noch kein Grund, sich für den Silberling zu entscheiden (abgesehen davon, daß 300 Printausgaben natürlich erheblich teurer wären). Den entscheidenden Vorzug bilden die Zugriffsmöglichkeiten, die die CD bietet. Und hier zeigt sich, daß die Scheibe wirklich sinnvoll nur zusätzlich zum Gedruckten verwendet werden sollte. Ihr Luxus besteht in den Suchfunktionen, die sie für den fachlich Interessierten attraktiv macht. Wer hätte nicht schon einmal bei einem Autor verzweifelt nach einem bestimmten Zitat gesucht oder ermitteln wollen, bei welchem Verfasser dieses oder jene berühmte Zitat zu finden ist? Möglich ist auch, auf Begriff- oder Motivsuche zu gehen. Bei welchen Autoren etwa erscheint der Begriff Realismus? In welchen Zusammenhängen ist bei Goethe von Gott die Rede?

Es läßt sich bereits erraten, die "Digitale Bibliothek" ist aus dem Bedürfnis ihrer Macher entstanden und soll damit gleichzeitig den Bedürfnissen von Studierenden und Forschenden entsprechen. Zum Lesen am Bildschirm war sie von vornherein nicht gedacht und das Layout ist wirklich computertypisch unattraktiv, nur der ganz verrückte Liebhaber käme vielleicht auf die Idee, sich ein Notebook auf Reisen mitzunehmen, um eine ganze Bibliothek dabeihaben zu können.

In der "Digitalen Bibliothek" sind im Anschluß an die "Deutsche Literatur" Philosophie- und Autoreneditionen erschienen. Pünktlich zur Frankfurter Buchmesse sind einige Neuerscheinungen angekündigt, darunter "Ausgewählte Werke" von Marx und Engels. Als deren Zielgruppe sieht der Verlag u.a. Gegner von Marx. Vielleicht kann eine CD-ROM ja dazu beitragen, daß Marx-Verächter den von ihnen Abgelehnten tatsächlich einmal lesen.

Sebastian Podlejski

Die "Digitale Bibliothek" erscheint im Berliner Verlag "Directmedia Publishing".

Prenzlauer Berg in Stücken

Gelebte Berliner Geschichte wird erzählt

Wer Ost-Berlin in Vor-und Nachwendezeiten kennt, ertappt sich manchmal bei Wegbeschreibungen, bei solchen Einschüben wie"...wo früher mal der Konsum war" oder so ähnlich. Ich habe noch vor zwei Jahren jemanden zum Centrum-Warenhaus am Alex schicken wollen, nur so aus Gewohnheit und weil ich mit einer alten Bekannten redete. Aber wie geht es dann alten Leuten, die in ihrer Wohnung sind, seit sie geboren wurden?

In seiner Altbauwohnung sitzend oder liegend kann man sich fragen, wer wohl früher mal dort gewohnt hat. Meine erste Berliner Wohnung war zum Beispiel der Dienstbotentrakt einer schönen Salonwohnung. Natürlich Vorderhaus mit Parkett, was ich aber sehr viel später erfahren habe. Ich wollte immer auch mal die Decke abwaschen, um zu sehen, ob da nicht noch Reste von alter Bemalung waren. Jetzt wohne ich unter´m Dach ohne Stuck, ich schaue auf die Bäume eines Friedhofs und in der Ferne auf Kräne von irgendeiner Großbaustelle und frage mich, was wohl "meine" alten Leutchen im Haus darüber denken mögen. Ich traue mich aber nicht, sie zu fragen.

Als ich klein war, habe ich mir immer ganz viel von meinen Großeltern erzählen lassen. Oma hat vom Lyzeum erzählt und von der Weltreise von Hinterpommern nach Königsberg, die wohl mehr Dichtung als Wahrheit war. Der Großvater hingegen hielt sich sehr zurück. Er wollte sich nicht so gerne erinnern. Und manche Themen waren tabu, die Nazizeit zum Beispiel. Ich habe es trotzdem geliebt. Heute können sie keine Geschichten mehr erzählen.

Annett Gröschner hat viele solcher Geschichten aufgeschrieben, einige waren schon in der Literaturzeitschrift "Sklaven" unter dem Titel "Menschen an unserer Rückseite" zu lesen. Es sind Geschichten aus dem Prenzlauer Berg, dem sagenumwobenen mit den vielen alten Häusern und immer weniger alten Leuten. Das Ganze hat eine schöne Vorgeschichte: "Nachdem ein Versuch, in einer Seniorenfreizeitstätte eine Lesung zu organisieren, gründlich mißlungen war, die Alten hatten mittendrin angefangen "So ein wunderschöner Tag wie heute" zu singen, organisierte ich zusammen mit dem Kulturladen in der Kollwitzstraße einmal monatlich ein Erzählcafé... Viele, vor allem Frauen hatten ihre persönliche Geschichte noch nie erzählt, ihre Kinder wollten sie nicht hören. Auch bei den Veranstaltungen fehlte diese Generation. Es kamen vor allem sehr junge Leute als Zuhörer (A. Gröschner aus dem Vorwort). Nun gibt es die aufgezeichneten Interviews als Taschenbuch.

Alle Befragten haben die Zeit des Nationalsozialismus als Kinder erlebt, manche bewußt, manche nicht. Einige haben diese Zeit und das Leben im Nachkriegsberlin reflektiert und andere wiederum nicht. Die Interviews sind nur ein wenig bearbeitete, um sie lesbar zu machen. Sie sprechen über ihr eigenes Leben so kraftvoll und einfach fesselnd, daß man abtauchen könnte in eine Zeit, als es noch den koscheren Fleischerladen an der Ecke gab, der Bäcker noch Kuchenränder verkaufte und die (Alt) Berliner Welt noch in Ordnung schien. Und von der Karte verschwundene Straßenzüge erstehen wieder auf. Für alle, die neugierig geworden sind, ein Auszug:
"Das versunkene Viertel: Wera aus der Landsberger
Die Gegend um den Alexanderplatz ist eigentlich ein Stück Berlin, was aus dem Gedächtnis vieler Menschen gelöscht ist, weil es das nicht mehr gibt und von denen, die dort aufgewachsen sind, die meisten nicht mehr leben. Das ist ein Viertel gewesen, in dem die alte Geschichte Berlins noch lebendig war, weil es uralte Häuser gab, einige noch aus dem 18. Jahrhundert. Es hatte teilweise etwas Dörfliches. Ich erinnere mich an einen Kuhstall auf einem der Höfe. Als Kind ging ich immer mit der Blechkanne dahin und holte Milch... Für mich war das immer wie ´ne Befreiung aus der Steinwüste, wenn ich zu dem Hof gehen konnte, was ich ja jeden Tag machen mußte. Und dann dieser schöne Geruch der Milch, die noch so mit ´nem Schöpfer in die Kanne reingegeben wurde. Der Besitzer fuhr dann auch mit Brennholz durch die Straßen und rief dann: Brennholz für Kartoffelschalen! Man tauschte seine Kartoffelschalen gegen Brennholz ein... Drei Häuser weiter war zum Beispiel ein Hof, da wohnte ein Fellhändler, der hatte Kaninchenfelle. Und das war ja nun billige Ware, und in diesem Fellhof gab es ´e richtige Winde, wo die Bündel mit Fellen in den Lagerraum hochgehievt wurden... In diesem Haus, in dem der Fellhof war, war vorne ein Kleiderjude Ich war mit dem Sohn dieses Kleiderhändlers befreundet, es war mein erster Freund, den ich hatte. Und dadurch bin ich auch in die Familie reingekommen. Und kannte daher die Bräuche und den Umgang in der Familie...Das ist übrigens ´ne Familie gewesen, die abgeholt worden ist in der Kristallnacht. Damals bin ich um meinen ersten Freund gekommen..."

Hanna Feil

Annett Gröschner.
Jeder hat sein Stück Berlin gekriegt, Geschichten vom Prenzlauer Berg,
Rowohlt Taschenbuch Verlag, September 1998, 14,90 DM

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