Ausgabe 17 - 1998berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Berlin 1898

10. bis 23. September

Das Berliner Aquarium erhält mit der neuesten Sendung zwei gewaltige Riesenschlangen aus Hinter-Indien, und zwar zwei Exemplare jener dunklen Art, die dem Institut bisher fehlten. Die Oberseite ist schön hell graubraun getönt, und auf diesem Grund heben sich am Rücken zackenrandige, viereckige, dunkelbraune, in eine Reihe geordnete Flecken ab. Auch die Meerwasserbecken bekommen zum Teil neue Besatzung. Eine Sendung aus der Nordsee brachte eine hier noch nicht gezeigte Muschel, nämlich eine Art jener stattlichen Gattung, die man "Messerscheide" (Solen) nennt.

Eine spontane Trauerkundgebung bewirkt die Meldung über die Ermordung Elisabeth II. im Ausstellungspark am Lehrter Bahnhof. Am 11. September gegen 9.30 Uhr hört man im Park Gerüchte von einem Mord, bald darauf sieht man die Extrablätter des "Berliner Lokal-Anzeigers" in vielen Händen. Die Kapelle, die eben noch Walzer spielte, bricht plötzlich ab und lässt dann die ernsten Töne des Chopinschen Trauermarsches erklingen. Tief ergriffen hört das Publikum zu, als der letzte Ton verklungen ist, geht die Musik in "Gott erhalte Franz den Kaiser" über. Alle stehen zu dieser österreichischen Nationalhymne auf. Die Herren entblößen den Kopf. Die spontane Kundgebung wird von anwesenden Österreichern mit tränenden Augen als echt deutsch gerühmt. Sie ist der eigenen Initiative des Kapellmeisters entsprungen, der damit dem Publikum aus dem Herzen sprach und reichen Beifall erntete.

Ein bemerkenswerter Ringkampf spielt sich am selben 11. September in der Ausstellung Indien ab. Der bisher in drei Ringkämpfen gegen Berliner Ringer unbesiegt gebliebene Inder Mhabool Khan kämpft an diesem Tag gegen den bedeutendsten Ringer Berlins, dem Brauer Herrn Conrad Lux, einen Athleten, der bereits erfolgreiche Kämpfe mit dem berühmten Deutsch-Amerikaner Ernest Röber, dem "Champion Wrestler of America", mit dem Bayern Sebastian Müller, mit Ernst Pohl und Paul Ponst bestanden hat. Also hat der Inder jetzt einen schweren Stand.

Für den 14. September hat der Inder eine Herausforderung an den Ringer und Schlächter Paul Jankowski ergehen lassen, in der er ihn zum endgültigen Entscheidungskampf um den Preis von 300 Mark einlädt.

Die I. große allgemeine Kaninchen-Ausstellung des Vereins der Kaninchenzüchter von Charlottenburg und Umgebung findet vom 11. bis 12. September in der Berliner Straße 121 statt. Es sind Tier bis fast 18 Pfund eingegangen, außerdem eine große Anzahl von Familien, von denen manche durch schöne Zeichnung, andere durch sehr weiche, langhaarige und tadellos weiße Felle auffallen. Frettchen, Hasen, Rehe, Meerschweinchen, Pelzwerk, Felle, Skelette usw. vervollständigen die empfehlenswerte Ausstellung.

Die erste Prämierungsklasse umfasst belgische oder flandrische Riesenkaninchen, Widderkaninchen, Angoras, Schlachttiere, Russen, Lothringer Riesen, deutsche Rasse, neue deutsche Rasse, Black and Tans. Zur Verkaufsklasse gehören belgische Riesen, englische Widder, neue deutsche Rasse, Lapin belier, Angora, Silber- und Lothringer Riesen, sowie wilde Kaninchen. Die wertvollsten Tiere sind ein eisengraues Männchen für 90 Mark und ein gleichfarbiges Weibchen für 150 Mark. Im Ausstellungs-Restaurant Vandersee kann der Besucher das schmackhafte Kaninchenfleisch in verschiedener Zubereitung genießen.

Der Bau des zweiten Rathauses, das zwischen Kloster- und Jüdenstraße entstehen soll, wird schon am 1. Oktober begonnen werden. Gleichzeitig wird man mit den Entwürfen für das III. Märkische Irrenhaus beginnen.

Der Dampfer "Prinz Joachim" ist vollbesetzt, als er am 12. September, 18 Uhr vom Landungsplatz zwischen Waisen- und Jannowitzbrücke zum Eierhäuschen abfährt. Er passiert die Oberbaumbrücke, als der Kapitän seinen Platz verlässt und das Steuer einem Angestellten übergibt. Dieser biegt nach wenigen Minuten aus dem Kurs und fährt direkt gegen eine verankerte, leere Kohlenzille. Die vielen Passagiere werden durch den heftigen Ruck gegeneinander geschleudert. Mehrere Herren springen vor Schreck in die Zille. Ein Schirm, ein Hut und die einer Dame gehörende Tasche mit über 20 Mark fallen ins Wasser. Der aus der Kajüte ans Steuer eilende Kapitän macht den Dampfer wieder los und fährt weiter zum Eierhäuschen.

Beim Anstrich des Sudhauses im Böhmischen Brauhaus in der Landsberger Allee ist der Malergehilfe Ludwig Bühring beschäftigt. Bühring steht auf einer Leiter, als sein Rockschoß einem Treibriemen zu nahe kommt. Er will mit der Hand den Rock zurückziehen, wird dabei aber mit dem ganzen Arm ins Räderwerk gezogen. Der Arm wird ihm unterhalb des Schultergelenks abgerissen. Mit einem Krankenwagen der Berliner Unfallstationen wird der Verletzte ins Krankenhaus Friedrichshain gebracht.

Um Gefangene per Straßenbahn vom Stadtvoigteigefängis vom Molkenmarkt zum neu erbauten Gefängnis in Tegel transportieren zu können, ist eine Abzweigung von den Stammgleisen nötig. Die Linie der Großen Berliner Straßenbahn auf dem Mokenmarkt muss zum Stadtvoigteigefänis verlängert werden, die zuständige Behörde sucht bei der städtischen Verkehrs-Deputation um die Genehmigung für diese Anlage nach

Falko Hennig

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