Ausgabe 17 - 1998berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Poesie in Pappe

Literarische Zeitschriften präsentieren sich medial gewandelt

Ein Buch ist ein Buch ist ein Buch. Und manchmal auch eine Zeitschrift. Und wer eine poetische Offenbarung einem lieben Menschen zukommen lassen will, muß zur Schere greifen. Diese Theoreme sind massiv erschüttert, ignorieren doch gleich zwei neuere Produkte die Gebote von Klammerheftung und Seitenverzeichnis.

Lyrik und Prosa hauptsächlich aus BRD und USA, dazwischen Stimmen aus Georgien, China oder Mexiko. Die neue Ausgabe der "Außenenseite des Elements", bewegt sich mit ihren Texten, sämtlich Erstveröffentlichungen, zwischen innerlich und cool, kurz und lang - eine lesbare Mischung in rauher Schreibmaschinenästhetik. Die nicht-deutschen Texte sind im Original und in Übersetzung abgedruckt, dazwischen sorgen Illustrationen für etwas Auflockerung. Dennoch sind die in einer kartonierten Schachtel verpackten 127 einseitig bedruckten DIN-A4-Blätter eine zu große Masse, als daß sich hinter ihnen auch eine Leitidee ausmachen ließe. Die Herausgeber wenigstens möchten einen Austausch "über geographische wie sprachliche Grenzen hinweg" initiieren.

Ob dies dadurch geschehen soll, daß der Rezipient die leeren Rückseiten füllen und sie dann verschicken darf, kann nur vermutet werden. Die Herausgeber haben ihrem Paket ein Zitat von Hans Magnus Enzensberger vorangeschickt, in dem dieser von der "idealen Form eines Kartenspiels" schwärmt, die es dem Leser gestatten würde, "das Puzzlespiel mit den Texten beliebig auszudehnen und zu variieren. Das sind Vergnügen, die ein Buch nicht gestattet." Vermutlich hat der Zitierte von kleineren und womöglich bunteren Formaten gesprochen. Der massive Stapel scheint tatsächlich am besten in der stabilen Pappschachtel aufgehoben - und so bleiben es eingesperrte Ideen.

Auch das neue Nomadenheft, das in seiner letzten Ausgabe noch A-5-formatig in einer Obsttüte vertrieben wurde, hat äußerlich an Stabilität hinzugewonnen: eine Pizzaschachtel mit multimedialem Inhalt. Es finden sich da unter anderem ein Dia, ein Tonobjekt und ein Siebdruck - und einige wenige Texte. "Die drei Quälgeister" von Alessandro Verri ist die Fortsetzung des gleichnamigen Textausschnitts aus der letzten Ausgabe. Prosa gibt es von drei weiteren Autoren. Gedruckt auf Briefpapierrestposten oder Einschlagpapier und in einem braunen grobkörnigen Einband mit Paketklammern zusammengeheftet, sind sie auch haptisches Erlebnis.

Dieser kleinere Teil ließe die Bezeichnung Literaturzeitschrift für das Nomadenheft noch zu. Der restliche Inhalt aber zeigt, daß es nicht um die traditionelle Autor-Leser-Beziehung geht. "Schacht-El" ist, programmatisch, einer der Texte betitelt, der in die Kindheit zurückschweift und die Magie eines Kartons als Ort der Erinnerung beschreibt.

Ihm folgend, sieht man die Box am besten als Wundertüte, verstreut ihren Inhalt auf den Fußboden und spielt ein bißchen mit den insgesamt 16 Beiträgen auf unterschiedlichen Materialien. Einige Postkarten sind darunter: Als Textkarten in Lebensmittelfolie oder als das "Kleine Handgepäck zur Erforschung audiophoner Phänomene" - mitunter beidseitig bedruckt und somit nicht gerade zum Verschicken, vielleicht aber wie anderes auch zum Weitergeben geeignet.

Bruno Nagel etwa bietet, in einem wasserdichten Plastikbeutel, Visitenkarten ohne Adressse. Rätselhaftes wie "kaputte Ampel - blau grün gelb" steht auf einer, "BLUMENhufen" auf einer anderen. "als hermann zapf von der kurve erfuhr" verrät am deutlichsten ihren Sinn: unfertig in Inhalt, bieten sie sich an, einen Dialog mit einer Person zu eröffnen, der wir sonst unser Kärtchen mit Büro-Nummer und e-mail-Adresse in die Hand drücken würden, einem Geschäftspartner, einem Freund - oder der Unbekannten vom Nachbartisch im Café.

Auch die "transportablen Kommentare", wetterbeständige Aufkleber in Butterbrotpapiertüte, der Chantal Labinski verfolgen mit Sätzen wie "Kopf hoch Pupsi" oder "ich knn mich nich knzntrirn" die Idee, eine Kommunikation in den öffentlichen Raum zu tragen - oder vielleicht auch nur in die WG mit dem Diaprojektor, die man lange nicht besucht hat.

mil

"Die Außenseite des Elements", beim Herausgeber; fon 4406428.
"Nomadenheft", u.a. in Juliettes Literatursalon, Gormannstr., Wiens Buchladen, Linienstr., König im Hamburger Bahnhof, oder beim Herausgeber, fon 7859848

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  Ausgabe 17 - 1998