Ausgabe 15 - 1998berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Berlin 1898

13. August bis 9. September

Zu Bismarcks Tod am 30. Juli gibt es einen interessanten Nachtrag aus dem Berliner Zeitungsleben. Schon eine Woche davor waren die Berliner Zeitungen im Besitz von sicheren Meldungen, nach denen Bismarcks Zustand hoffnungslos war. Nur die Rücksicht auf den greisen Patienten, der bis in die letzten Tage hinein die Zeitungen aufmerksam verfolgte, hielt sie von der Veröffentlichung der betrübenden Nachrichten zurück. So musste Bismarck von seinem bevorstehenden Tod wenigstens nicht aus der Zeitung erfahren.

Die Errichtung eines vegetarischen Kinderheims hat Dr. Julius Baron in seinem Testament angeregt und dafür dem Berliner Magistrat 470000 Mark hinterlassen. Vor Annahme des Vermächtnisses holt der Magistrat ein Gutachten bei den städtischen Krankenanstalten und der öffentlichen Gesundheitspflege darüber ein, ob durch die von dem Erblasser vorgeschriebene Ernährung den Waisenkindern Nachteile für ihre Gesundheit drohe. In dem Gutachten werden allgemeine Bedenken gegen die vegetarische Ernährung unter ärztlicher Aufsicht nicht erhoben. Professor Renvers fordert, dass sich die fleischlose Ernährung nur bis zum schulpflichtigen Alter erstrecken soll, in der Schulzeit und Pubertät könne sie mit Nachteilen verbunden sein.

Da aber die vegetarische Ernährung für das ganze Kindesalter gefordert wird und Waisenkinder zum Gegenstand des Versuchs gemacht werden sollen und weil die Errichtung des Instituts den Anhängern des wissenschaftlich unbegründeten Vegetarismus Material für ihre Propaganda biete, wird die Annahme des Vermächtnisses dem Magistrat nicht empfohlen. Der Magistrat will aber die erhebliche Zuwendung nicht zurückweisen und beschließt, das Vermächtnis anzunehmen.

Der "Schutzverband deutscher Radfahrer" hält seine allgemeine Radfahrer-Versammlung am 19. August ab. Nach eingehender Darlegung des Vorsitzenden, Lehrer Diekmann, stimmt man einer Eingabe über die Reform der Verkehrsvorschriften für Fahrräder in Berlin zu. In der Eingabe an das hiesige Polizei-Präsidium heißt es:

"Das königl. Polizei-Präsidium zu Berlin erlauben sich die unterzeichneten, in den Arminhallen zu Berlin, Kommandantenstraße 20, versammelten Radfahrer, und zwar die Angehörigen des Schutzverbandes deutscher Radfahrer, des deutschen Radfahrer-Bundes, der Allgemeinen Radfahrer-Union (Deutscher Tourenklub) und zahlreicher anderer Vereine, sowie Einzelfahrer, ganz ergebenst zu bitten, ein hohes Präsidium wolle:

1. von jeder weiteren Beschränkung des Fahrradverkehrs mit einsitzigen Zweirädern (Niederrädern) absehen und es bei den durch die Polizei-Verfügung vom 25. Januar 1896 getroffenen Straßenabsperrungen belassen, bezw. auch diese ganz oder theilweise aufheben;

2. die Verfügungen vom 24. März 1884, bezw. 22. August 1891 und 30. April 1896,

betreffend das Fahren auf Tandems, in

Anbetracht der inzwischen eingetretenen Verschiebung des Berliner Straßenverkehrs einer Revision unterziehen und die in der Anlage bezeichneten Straßen dem Verkehr für Tandems freigeben;

3. die für Fahrräder gesperrten Straßen durch Schilder kennlich machen derart, daß klar zu ersehen ist, ob die Sperrung sich nur auf Einsitzer oder nur auf Mehrsitzer oder auf Zweiräder überhaupt erstreckt;

4. Eine Anzahl von Beamten der Straßenpolizei mit Fahrrädern ausrüsten und durch sie einen ständigen Patrouillendienst in sämmtlichen Straßen der Stadt ausüben lassen zur sicheren und leichteren Handhabung des gesammten Verkehrs;

5. einer beschränkten Anzahl von Radfahrern verkehrspolizeiliche Befugnisse widerruflich gewähren und die Auswahl der Radfahrer den eingangs erwähnten, hier in Berlin vertretenen Radfahrerverbänden anheimgeben;

6. möglichst bei jeder beabsichtigten Aenderung der Vorschriften für den Fahrradverkehr in Berlin die von der Berliner organisierten Radfahrerschaft, d. i. den vorbenannten Radfahrerverbünden gewählte, dem Königl. Polizei-Präsidium alljährlich namhaft gemachte Radfahrer-Kommission zu Rathe ziehen."

In später Stunde nimmt die Radfahrer-Versammlung noch eine zweite Petition an den Herrn Eisenbahnminister an, die einen Verzicht auf die zum 1. September geplante Änderung im Transport der Fahrräder als Passagiergut fordert, sowie eine gleiche Behandlung aller Arten Fahrräder auf den preußischen Staatsbahnen und die baldige Einstellung von für Fahrräder geeignete Gepäckwagen.

Das Radlerzimmer des Polizeipräsidiums ist das Zimmer 75 des Präsidialgebäudes am Alexanderplatz, direkt dem Arbeitsnachweis an der Stadtbahn gegenüber. Dort walten die Beauftragten des Kommissariats für das öffentliche Fuhrwesen ihres Amtes. Hier erhält der Kutscher seinen Fahrschein, der Radfahrer seine Fahrkarte. Allein für die Ausfertigung dieser Rad-Fahrkarten ist ein Beamter ununterbrochen beschäftigt. Der obrigkeitliche Akt, der für das Fortkommen des Radlers unerlässlich ist, spielt sich in wenigen Minuten ab: Der Beamte trägt nach der ihm vorgelegten Legitimation das Nationale in einen dickleibigen Folianten ein und füllt eine der grünen Karten aus, wobei er einen flüchtigen Seitenblick auf den künftigen Karteninhaber wirft, um dessen "Statur", "Haare" und "besondere Kennzeichen" ordnungsgemäß eintragen zu können. Dann folgt noch die eigenhändige Unterschrift und der Inhaber verschwindet vergnügt: Er darf nun radeln. Wenn er will, kann er sich auch ein "Vademecum für Radfahrer" einstecken, hier ist wohl der einzige Ort im Polizei-Präsidium, an dem etwas verschenkt wird. Der die Karten ausstellende Beamte hat schon die Nr. 25000 der grünen Karten fertig. Bedenkt man, dass zehntausend Karten der Jahrgänge 1896-97 noch gültig sind, erkennt man den enormen Fortschritt.

Falko Hennig

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