Ausgabe 15/16 - 1998berliner stadtzeitung
scheinschlag

Diese Ausgabe

Inhaltsverzeichnis


Zur Homepage

Blick in ein unaufgeräumtes Zimmer

Bestandsbeobachtung statt Leitbildverherrlichung in Friedrichshain

"Aus Ärger" über die einseitigen Kategorien des Planwerks Innenstadt haben die beiden Architekturstudenten Ralf Ebermann und Cyrus Zahiri einen 37-seitigen Reader verfaßt. Stellvertretend für die übergangenen Stadtbilder des Nachkriegs-Berlins wird darin ein Wohngebiet in Friedrichshain beschrieben. Einige Auszüge daraus:

"Insgesamt ist die Stalinallee bis heute ein Fremdkörper, der den städtebaulichen Zusammenhang des Bezirks Friedrichshain zerschneidet. Es wird energische Korrekturen brauchen, um diese Straße in Zukunft einmal mit dem umgebenden - bis heute seinerseits grausig zerstörten - Stadtgeflecht zu verknüpfen."

(Dieter Hoffmann-Axthelm, 1995)

Jede Zeit ästhetisiert vorher verurteilte städtebauliche Muster. Was um 1900 noch als "Schema ohne Raumabsicht" galt, werten die 70er Jahre zu "Kreuzberger Mischung" und "städtebauliche Dichte" um.

Der parzellierte Block entsteht aus einem zur Bebauung ausgewiesenen Planfeld. Ohne Rücksicht auf den Nachbarn kann jeder Eigentümer seine Parzelle überbauen. Aus jeder Grundstückgrenze kann eine fünfgeschossige Raumabgrenzung werden, Bebauung und zugehörige Freifläche müssen also auf einer Parzelle Platz finden. Dieses Bebauungssystem produziert hauptsächlich Abgrenzungen, es reduziert städtischen Raum auf Straße und Platz. Will man ein Planfeld räumlich zusammenhängend bebauen, liegt es nah, Freiflächen zu verbinden. Neben der äußeren Stadt ensteht dann ein Innenbereich mit einer einer Vielzahl von Teilräumen, eine heimliche zweite Stadt.

Daß sich die Wahrnehmung des Blocks durch die Kriegsschäden verändert hat, wird selten thematisiert. Lückenhaft, in wechselnder Dichte, entkernt, teilweise völlig freigestellt, kann er in neuen Perspektiven erlebt werden. Im Umgang mit den Kriegsschäden versucht der Städtebau der Nachkriegszeit oft zwei Gegensätze zu vereinen: den gefaßten Raum und die Aussicht auf Weite. Deshalb wird Raum oft nur angedeutet statt umgrenzt. Diese ambivalente und kompromißlerische Haltung wirkt auf den ersten Blick zufällig und willkürlich und ist deshalb leicht zu übersehen, leicht anzugreifen.

Zusammen mit den Bauten der Nachkriegszeit ist das Berliner Stadtbild aber über "Straße", "Hof", "Park" und "Platz" hinaus mit einer Fülle von Räumen bereichert worden. Diese geplanten, großzügigen Darbietungen oder unabsichtlichen, eigenartigen Zufälle sollten nicht allzuleicht dem Dogma der Kenntlichkeit geopfert werden. Es sollte geprüft werden, ob sie nicht Qualitäten aufweisen, die es lohnt zu entdecken. Vielleicht liegt das baulich-räumliche Potential, die Besonderheit Berlins nicht in der unsichtbaren Vergangenheit, sondern in der sichtbaren Gegenwart.

Das unaufgeräumte Zimmer

Die Rückseite der Karl-Marx-Allee, genauer das Quartier zwischen Warschauer, Grünberger, Wedekind-,

Rüdersdorfer Straße und Straße der Pariser Kommune, soll diesen Versuch stellvertretend illustrieren.

Für die Wahl dieses Gebiets spricht Mehreres. Zunächst ermöglichen die angrenzenden gründerzeitlichen Stadtblöcke einen Vergleich: der "robusten Einfachheit" des Blocks kann die Beziehungsfülle des betrachteten Quartiers entgegengehalten werden. Teile des Quarties bestehen noch aus der Vorkriegsblockstruktur, deshalb entstehen teilweise unorthodoxe Wechsel zwischen Alt und Neu. Die Bauten sind in Teilplanungen ab 1950 entstanden. Dabei haben Leitbildwechsel, unvollständige Ausführung und eine ambivalente Haltung zu den Vorkriegsbauten neben geplanten Raumsituationen eine Reihe von Zufällgkeiten und Besonderheiten verursacht. Die gesamte Bebauung zwischen Karl-Marx-Allee und S-Bahn-Linie ist durchlässig. Ab Warschauer Straße ist es deshalb möglich auf unterschiedlichsten Wegen zum Alexanderplatz zu gelangen. In den Wiederaufbaugebieten in den westlichen Teilen Berlins sind moderne Leitbilder oft nur im Rahmen der wiederaufzunehmenden Grundstücksgrenzen realisiert worden. Oft unterlaufen Hecken, Zäune und andere untergeordnete Raumabgrenzungen die räumlichen Zusammenhänge in den offenen Bebauungsformen. Durch die Verstaatlichung des Bodens kann der DDR-Städtebau, deutlicher als in West-Berlin, räumliche Zusammenhänge sichern. Im Laufe der vergangenen Monate ist zu beobachten, wie die ursprünglich offenen Hof- und Quartiersstrukturen abschließbar gemacht werden.

Das Quartier gehört zu den ersten nach dem Krieg begonnenen Aufbauprojekten. Alter und Bewuchs zeigen eingelebte und benutzte Räume. Es zeigt sich, das städtisches Wohnen von einer "aufgelösten" Struktur profitieren kann, wenn die Nutzer Zeit hatten, diese Struktur zu erkunden und anzunehmen.

Wand, Teppich und Möbel

Zunächst ist auf dem Plan keine beschreibbare Struktur zu erkennen: unterschiedliche Bauten und dazwischen scheinbar unbeachtet entstandene Räume. Dem Quartier fehlt in weiten Teilen die übliche deutliche Trennung zwischen öffentlich und privat. Statt ein Ordnungsschema zu suchen, soll deshalb die Lage der Bauten im Gebiet, ihr Verhältnis zur Umgebung betrachtet werden. Wie ein großer Teppich sind die meisten Flächen zusammenhängend zu betreten. Die Bauten am Rand des Quartiers haben umschließende Funktion, sie grenzen wie "Wände" zu den umgebenden Straßen ab. Den Bauten im Inneren ermöglicht das, wie "Möbel", Bereiche auszubilden.

Die Bebauung wirkt auf den ersten Blick lückenhaft. Die Unterbrechungen ermöglichen eine große Anzahl von Durchblicken und Öffnungen. Über die Öffnungen lassen sich die Räume staffeln, in diesen Staffelungen erscheint das Quartier größer. Unterschiedliche, üblicherweise getrennte Teile der Stadt können gleichzeitig erlebt werden. In der Bewegung ändern sich die Zusammenhänge.

Der Teppich aus Freiflächen umfaßt alle öffentlichen und halböffentlichen Freiflächen, diese Flächen sind nicht unbedingt den Bauten zugeordnet. So schreiben sie nicht vor, wozu sie genutzt sein wollen. Die funktionale Unbesetztheit kann als Einladung verstanden werden. Die Bewohner sind nicht auf ihre gemietete Flächen beschränkt, sie wohnen in der Stadt. Die Durchquerung ist eine Reise durch den Alltag des Quartiers. Dabei bleibt alles beiläufig, nebensächlich. Öffentlich und Privat schließt sich nicht aus, es gewinnt voneinander.

Die Möblierung sorgt für unterschiedliche Situationen und Szenen. "Platz", "Straße", "Wäldchen" erscheinen aber immer nur kurze Zeit. Der Schnitt, der Verzicht auf Kontinuität betont die Stimmung, den Reiz der Szene. Der kurze Straßenraum, das kleine "Wäldchen" wirken gerade in ihrer Abgegrenztheit. Sie beanspruchen keine Vollständigkeit, der Blick hinter die Kulissen ist

immer möglich. Szenen beziehen sich nicht unbedingt aufeinander. Entschlossenheit, Neugier und Zerstreuung des Betrachters stellt sie zusammen. Es braucht Zeit, bis er das Quartier kennt.

Vom Wachsen

Die Entwicklung des Quartiers ist ein widersprüchliches Wachsen in Schüben und Brüchen. Dennoch bezieht jede Planung auch das Vorhergehende ein, wertet es im Sinne eines neuen Leitbildes um. Tatsächlich gibt es nicht die klare Entscheidung für das eine oder gegen das andere. Man verhandelt in jeder Phase aufs Neue zwischen dem Bestehenden und dem Zugefügten. Die Vielzahl der Planungen bleiben somit Stückwerk im positiven Sinn für das Gesamtgebiet.

Der Wechsel im Patchwork des städtebaulichen Texturen ist für Berlin typisch und macht den speziellen Reiz der Stadt und ihrer Teile aus. Diese Vielfalt an städtischen Räumen sollte nicht aus den Augen verloren werden. Eine Betrachtung des tatsächlich Gebauten kann Anlaß sein, vorgefaßten Bilder in Frage zu stellen.

Cyrus Zahiri, Ralf Ebermann
Kontakt: fon 2012695

© scheinschlag 2000
Inhalt dieser Ausgabe | Home | Aktuelle Ausgabe | Archiv | Sitemap | E-Mail

  Ausgabe 15/16 - 1998