Ausgabe 15/16 - 1998berliner stadtzeitung
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Obdachlosenpolitik

Kreuzberg auf einem guten Weg?

Interview mit Ingeborg Junge-Reyer,
Sozialstadträtin in Kreuzberg

Wieviele Obdachlose gibt es in Kreuzberg?

Etwas über 600, allerdings sind alle, die keine Wohnung haben, in bezirkseigenen Häusern oder Pensionen untergebracht.

In der Presse gibt es immer wieder Meldungen über Wohnungsleerstand, z.B. hat der "Tagesspiegel" vor einigen Wochen berichtet, daß bei der DeGeWo 750 Wohnungen leerstünden. Warum ist es so schwer, die Leute dort unterzubringen?

Die Zahl der Obdachlosen hat sich in den letzten drei Jahren in Kreuzberg halbiert, weil es einen guten Kontakt zu Wohnungsbaugesellschaften gibt, weil es das "geschützte Marktsegment" gibt und weil wir ein Belegungsrecht für die ehemaligen bezirkseigenen Wohnungen haben. Also: eine gute Versorgung mit Wohnungen!

Es scheint doch offenbar nicht zu reichen?

Vom Umfang her reichen die Wohnungen, die Frage ist, ob sie passen! Was wir suchen, sind Einzimmerwohnungen, die man mit einem normalen Einkommen auch bezahlen kann, und große Wohnungen, vor allem für ausländische Familien mit vielen Kindern. Die gibt es nach wie vor noch zu wenig.

Dann gibt es doch offenbar nicht genug Wohnungen, für die der Bezirk Belegungsrechte hat?

Wir haben Belegungsrechte für die bezirkseigenen Wohnungen hier in Kreuzberg und wir können die Wohnungsbaugesellschaften über das "geschützte Marktsegment" auffordern, uns Wohnungen zur Verfügung zu stellen. Aber ein Sozialamt hat natürlich kein direktes Belegungsrecht in dem Sinne, daß wir für ein bestimmte Sozialwohnung eine bestimmte Familie verbindlich benennen können.

Wäre es nicht anzustreben, dem Bezirk noch mehr Zugriffsrechte auf Wohnungen zu geben?

Diejenigen, die jetzt wohnungslos sind, brauchen in vielen Fällen nicht nur eine Wohnung, sondern weitere Hilfestellung und Betreuung, z.B. eine Wohnung in einem Angebot des betreuten Wohnens, eine Wohnung, die sich für psychisch Kranke eignet oder eine Betreungsmöglichkeit, bei der man sich mit ihrem Suchtproblem auseinandersetzt. Deshalb steht nicht nur die Suche nach einer Wohnung, sondern auch die Suche nach Betreuung im Vordergrund der Bemühungen des Sozialamtes.

Andererseits beklagen sich die Wohlfahrtsorganisationen darüber, daß gerade hier Gelder gestrichen worden sind.

Ich wüßte nicht, wo Gelder gestrichen worden sind, jedenfalls kann ich Ihnen nicht bestätigen, daß ich an irgendeiner Stelle in meinem bezirklichen Haushalt irgendeine Streichung von Geldern für Obdachlose habe! Wenn ich erfolgreich für Obdachlose eine Wohnung finde, die nicht mehr betreut werden müssen, dann ist - in vielen Fällen - diese Einrichtung glücklicherweise nicht mehr erforderlich. Wenn es uns jetzt endlich gelingt, für Obdachlose Wohnungen zu besorgen, dann möchte ich nicht, daß sich jetzt jemand beklagt, daß an anderer Stelle für das betreute Wohnen, das gar nicht mehr erforderlich ist, kein Geld mehr ausgegeben wird! Wir haben im Land Berlin in diesen Einrichtungen viel mehr Plätze als wir brauchen, und da beklagen sich natürlich die Einrichtungsträger, daß sie nicht mehr voll belegt sind. Das kann ich verstehen, aber ich werde deshalb niemanden, der auch in eine Wohnung ziehen kann, in eine betreute Wohnform geben.

Gibt es in Kreuzberg Langzeitobdachlose, die monate- oder jahrelang in Pensionen leben?

Wenn jemand über lange Zeit in einer Pension lebt, dann heißt das immer, daß einer in einer Wohnung nicht leben kann oder will, und das heißt, daß jemand kaum gemeinschaftsfähig ist. Deshalb ist es nicht auszuschließen, daß es Menschen gibt, die über eine lange Zeit weder in eine Wohnung zu vermitteln sind noch in ein betreutes Wohnen.

Das verstehe ich nicht ganz, gerade für diese nicht gemeinschaftsfähigen Leute sind doch diese betreuten Wohnprojekte vorgesehen.

Ja, aber nicht jeder akzeptiert sie und ich kann niemanden in solch eine Einrichtung zwangseinweisen. Wer in einer Pension wohnt, kommt regelmäßig, um seine Sozialhilfe abzuholen, und in diesen Fällen wird - mit allen - regelmäßig darüber gesprochen, ob die Unterbringung, die sie haben, noch richtig ist. Wir haben überhaupt kein Interesse daran, daß jemand dauerhaft in einer teuren Pension lebt, wenn jemand in einer Wohnung oder in einer betreuten Einrichtung so beraten werden könnte, daß irgendwann die Wohnungslosigkeit beseitigt ist.

Was bleibt zu tun, um die Obdachlosigkeit weiter abzubauen?

Alle Möglichkeiten zur Vermeidung von Obdachlosigkeit anwenden, außerdem müssen mehr Einzimmerwohnungen zur Verfügung gestellt werden.

Woran liegt´s? Gibt es solche Wohnungen nicht?

Es gibt verhältnismäßig wenig preiswerte Einzimmerwohnungen in Berlin. Das sieht man auch am Mietspiegel, daß Einzimmerwohnungen lange Zeit überdurchschnittlich teuer waren.

Sie plädieren also für Baumaßnahmen in dieser Richtung?

Nein, ich denke, man muß sehen, daß wir die vorhandenen Wohnungen nutzen und daß von den Einzimmerwohnungen noch mehr in das "geschützte Marktsegment" gehen.

Sie sind also in Verhandlungen, daß das "geschützte Marktsegment" aufgestockt wird?

Nein, wir verhandeln nur mit den Wohnungsbaugesellschaften darüber, daß wir andere Wohnungen brauchen.

Wir brauchen nicht soviele 2,5-Zimmer-Wohnungen, sondern größere oder kleinere Wohnungen.

Wichtig ist es ja auch, Obdachlosigkeit gar nicht erst entstehen zu lassen und Wohnungsverlust im Vorfeld zu verhindern.

Wenn jemand mit rückständigen Mieten kommt, dann prüfen wir die Übernahme der rückständigen Mieten und vermeiden in vielen Fällen die Wohnungslosigkeit.

Gelingt dies in allen Fällen?

Das kommt darauf an. Sie müssen sich vorstellen: Wir übernehmen einmal die rückständige Miete, ein Dreivierteljahr später stellt der Vermieter fest, daß die Miete wieder nicht gezahlt wird, außerdem gibt es Beschwerden im Haus über den Hausbewohner, dann sagt der Vermieter "Ich will nicht mehr!" Dann können wir auch mit dem großzügigsten Angebot zur Übernahme der rückständigen Mieten gar nichts machen.

Wäre es nicht sinnvoll, wenn das erste Mal etwas passiert ist, dann den Leuten einen Sozialarbeiter zur Seite zu stellen, der die Leute regelmäßig aufsucht?

Das tun wir! Das Betreuungsangebot muß nur angenommen werden. Wer

das nicht will, wer sagt "Laßt mich in Ruhe!", dem können wir letztlich nicht helfen.

Das Interview führte Harald Wernicke.

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