Ausgabe 15/16 - 1998berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Alles dreht sich

"Nächster Halt Plänterwald", der Waggon rattert schwerfällig, am Horizont schwirrt das Riesenrad.

Die Durchsage klingt heiter, manche Fahrgäste lächeln. Es räuspert sich der Sprecher, dann singt er, molto passionata "Dreaming, IĞm always dreaming..." während die S-Bahn beschleunigt, ein elegantes Looping dreht, ein zweites, sich nach oben schraubt (die Fahrgäste lächeln nicht mehr), nach unten stürzt und zügig zum Stehen kommt.

Steigt man nun aus und folgt der kleinen Karawane euphorisierter Kinder mit den Eltern an der Hand, dann findet man es tief im Wald, das Tor zum verwunschenen Park.

Zu bleichen Kassiererinnen kostümierte Waldfeen verkaufen die Tickets.

Lustige riesige Plüschtiere auf Menschenbeinen begrüßen die Ankömmlinge, die sofort beginnen, sich gegenseitig zu fotografieren. Den Rest des Tages werden sie damit nicht aufhören.

Der "Spreepark, unser Freizeitzentrum im Herzen der neuen Bundeshauptstadt" ist entstanden aus dem "Kulturpark Berlin" am Rand der alten Haupstadt. 1992 wurde privatisiert, der Senat lehnte ein amerikanisches Modell ab und verkaufte an die Firma Witte mit ihrem Wasser-Natur-Berlin inspirierten Konzept.

Früher zahlte man 2 Mark Eintritt und mußte für jedes Kulturangebot weitere Märker nachlegen. Heute kostet der Einlaß 28 Mark (26 Mark für Kinder, an Freitagen kommt ein Kind pro Erwachsenem gratis rein, an Geburtstagen das Geburtstagskind).

Dafür kann man sich bis Betriebsschluß in phantastischen bunten Gefährten mit niedriger oder hoher Geschwindigkeit im Kreis wirbeln lassen, und damit die breite Palette der körpereigenen amphetaminähnlichen Substanzen aktivieren, (all inclusive).

Bei der Neugestaltung bewiesen die Betreiber tatsächlich einiges Feingefühl . Hügel wurden aufgeschüttet, zierliche Kanäle gegraben. In kleinen weißen Gondeln mit weißrotgestreiften Baldachinen kann man das Riesenrad umschiffen, wahlweise auch in weißen Plastikschwänen.

Es gibt gepflegte Blumenrabatten, gepflegte Wege, gepflegte Imbißhäuschen.

Es gibt alte, wunderschöne Karussells, neue Wasserrutschen, Autobahnen, Autoscooter, Loopingbahn, Pferdereiten, und es gibt das ultimative Masochistenvergnügen, das Roll over heißt.

Die Integration spezifischer Berliner Geschichte - sehr zeitgemäß noch im Baustadium - findet man in 4-Zonen-Erlebnisbereichen.

Der amerikanische Sektor "Colorado Country" ähnelt einem pastellfarbenen Wildwest Fort, mit Saloon, Spielhölle, Streichelzoo.

Frankreich präsentiert sich windschnittig mit dem Monte Carlo Drive (Englisch klingt mehr nach Entertainment, deshalb heißt die Spinne jetzt auch Happy Spider). In altrosa und zitronengelben 50er Jahre Cabrios kann man eine Schleife fahren über eine Brücke und durch einen Tunnel.

Ein englisches Mittelalterdorf existiert bereits auf Ankündigungstafeln.

"Nur die Russen machen uns noch Probleme," resümiert der Parkpressesprecher, er träumt von einem Kreml en miniature und einem Stück Berliner Mauer. Rußland ist zur Zeit noch nicht so freizeitspaßkompatibel.

Der historische Kontext von Dinosaurierland wirkt dagegen etwas beliebig, aber die Kinder juchzen vor Freude beim Anblick der betonierten Riesenechsen. Mittendrin, in frischer Tat erstarrt, schlägt ein Säbelzahntiger seine Krallen in den Rücken eines Mammuts, das praktischerweise bis zum Bauch im Boden steckt. Das Mammut sieht fast aus wie ein Elefant und lacht.

Die blonde Frau, die süße Träume verkauft, 100 Gramm für 2 Mark 50, lacht auch immer.

Eine Glitzerfee malt den Kindern bunte Masken ins Gesicht. Sie werden mit Zauberstaub bestreut und plötzlich rufen alle "Oh, bist Du schön!" Ein kleines Mädchen starrt ganz hingerissen auf seine neues Leopardengesicht, nimmt den Spiegel, hält ihn der Mutter hin und quäkt "Schau, wie toll ich aussehe!"

Der Zuckerwattefrau weht, wenn es windig ist, der Zuckerwatteflaum davon, hängt ihr an den Kleidern, in den Haaren. Sie zupft ihn runter, rollt kleine Bällchen und lockt damit Wespen in eine lila glühende Falle. Die verwegenen Wespen sterben mit lautem Geknatter, die meisten krepieren still.

Die Musik in den Fahrattraktionen bestimmen die jeweiligen Steuermänner (Attraktionsjockeys , AJs?), sehr beliebt zur Zeit der Boney-M.-Mix.

Der Park hat ein echtes Kultpotential, das die Szenemickies nur noch nicht bemerkt haben, weil no kids sie herschleifen.

Die Eltern werden zu Komplizen ihrer Kinder, endlich sind sie so lässig, wie sie mit 13 gerne gewesen wären. Allerdings nur so lange, bis die undankbaren Bälger hysterisch zu kreischen beginnen, weil sie nach all den Vergnügungen, Genüssen und Gewinnen nicht auch noch den Piratenplastikdegen bekommen.

Häufen sich solche Szenen, weiß man, es wird Abend. Die gelbe schräge Sonne wirft lange Schatten über Wunderland und läßt es überirdisch leuchten.

Um 19 Uhr 30 ist die Zuckerwattefrau vollständig eingesponnen.

Ulli Lust

Spreepark Infotelefon 030/53335260, bis 25. Oktober

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  Ausgabe 15/16 - 1998