Ausgabe 15/16 - 1998berliner stadtzeitung
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"Gadjo dilo" - ein verrückter Fremder

Ein einsamer Wanderer stapft durch die weiten Ebenen der winterlichen Walachei.

Sein Weg ist ein Lied, das Ziel die Stimme: Nora Luca. Irgendwo inmitten der Einsamkeit bleibt er stehen, verweigert den Fortgang. Am Ende des Films steht er wieder an diesem Ort und tanzt versunken und entrückt nach der Musik der Roma. Stéphane (Romain Duris), der junge Franzose, hat etwas gefunden. Nicht das, was er suchte - oder doch? Nicht Nora Luca, aber das Leben der Zigeuner, ihre Herzen, Sinne, ihre Musik. Ihre Musik löscht er von den Tonträgern, denn das Herz ist der einzige Ort ihrer Bewahrung. Herz heißt Öffnung und Verwundbarkeit und Mut, sich fallenzulassen. Wer nichts zu verlieren hat, kann nur gewinnen...

Stéphane findet zunächst Izidor. In der nächtlichen kalten Ziganie weint Izidor um den Sohn. Adriani ist im Gefängnis, Stephane wird neuer Mittelpunkt in Izidores Leben. Er ist sein "Freund aus Frankreich, ...Pariiiis!, dort, wo die Zigeuner geachtet werden, wo sie Majore, Generäle und Anwälte sind."

Aber Stéphane ist für die anderen ein Gadjo, ein Fremder. Was will er? Ein Hühnerdieb? Ein Kinderdieb? Die Vorurteile der Dorfbewohner sind groß. Warum macht der Gadjo das Haus des Izidor sauber? Hat er keine Würde? Warum interessiert er sich für Sabina (Rona Hartner), die Entehrte, deren Mann sie in Belgien sitzen ließ? Aber Sabina ist sein sprachliches Pendant, seine Übersetzerin, bald seine Vertraute und Geliebte. Die Frau ist so sinnlich wie stolz, das erhobene Haupt entspricht ihrer Körperlichkeit. Sinn ist Sex und umgekehrt und alles ist Leben. Wenn er sich mit ihr, Bauch an Bauch, zur Musik ihrer Landsleute wiegt, spielt die Gegenwart keine Rolle mehr. Alles ein zeitloser Traum, je öfter man ihn träumt, desto schöner das Leben. Stéphane nimmt die Musik der Zigeuner auf, er versucht ihre Freude und Trauer auf Magnetstreifen zu bannen und endet bei der Erkenntnis des Herzens.

Außer den beiden Hauptdarstellern sind alle beteiligten Roma Laien. Sie spielen ihr Leben, denn sie spielen immer. Grandiose Schauspieler in einem improvisierten Stück Leben. Die Emotionen, die aus dem Bauch nicht erst den Umweg über den Kopf nehmen, sind unmittelbar, ehrlich und ungezügelt. Liebenswürdig und vulgär, anschmiegsam und gewalttätig. Regisseur Tony Gatlif warnte seinen Hauptdarsteller Romain Duris vor der ersten Begegnung mit den Zigeunern: "Ich werde nicht da sein, um dir zu sagen, daß du nach links oder rechts schauen sollst. Ich werde nicht diese Art von Regisseur sein können. Du mußt dir deinen Platz an der Seite von Izidor, den Zigeunern aus dem Dorf und den Musikern selbst suchen. Von jetzt an wird alles unvorhersehbar sein." Das Leben ist Spiel ist Leben: Romain Duris verliebt sich in eine Zigeunerin und das Drehbuch mußte umgeschrieben werden.

Es ist das Fremde, das wir in unserer Mitte bestenfalls als organisierten Ethnoauftritt akzeptieren. Wir akzeptieren die so andere Lebensweise, aber das Verstehen ist viel schwieriger. Mit "Time of the Gypsies" wurden die südosteuropäischen Zigeuner hoffähig. Oder auf der Bühne - die Konzerte von "Taraf de Haidouks" oder "Fanfare Ciocarlia" sind ausverkauft. Ihre Musik ist ein permanentes Aufbegehren, sie schreien Schmerz und Freude heraus. Beides liegt nah beieinander. Diese Schreie sind sinnliche Bauch-Poesie, statt unserer Verbalpoetik. Dazu bedarf es keines Perfektionismus´. Tony Gatlif versucht nicht, ein Bild zu schaffen, das wir alle für uns akzeptieren können - stattdessen thematisiert er das Wesen des Fremden, das uns fremd bleibt, wenn wir nach der Vorführung des Films auf die Schönhauser oder den Kudamm zurücktreten und unsere geordnete Welt wohlwollend zur Kenntnis nehmen. Gatlif: "Nach ,Latcho Drom´, einem Film, in dem mir die formale Schönheit wichtig war um meiner Liebe zu den Zigeunern Ausdruck zu verleihen, mußte ich etwas Roheres machen. Ich brauchte die Wahrheit, wollte alles sagen können, ohne Filter. Deswegen lasse ich die Roma in ihrer unverfälschten Sprache sprechen und hebe den Schleier über manche Tabus, die die Zigeuner normalerweise nicht preisgeben."

Etwas schwerer verständlich für den Außenstehenden ist das Verhältnis der Roma zu den Rumänen. Eine Beziehung gibt es nicht. Das Stillhalten weicht beim kleinsten Anlaß einem heißen Krieg. Gatlif webt zwei kurze, aber äußerst prägnante Szenen ein, die das von Ignoranz und Gewalt bestimmte Verhältnis erzählen.

Der Film bedient durchaus Klischees, webt diese aber geschickt in die Bilder vom Alltag der Roma ein. Die erzählte Geschichte ist schlicht - aber genau das macht sie so stark und die Nähe zu den Menschen so spürbar.

Berit Wich-Heiter

Gadjo dilo - ein verrückter Fremder,
ab 27. August im Broadway B,
Filmbühne Steinplatz, Hackesche Höfe, Kant, New Yorck, Nord

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  Ausgabe 15/16 - 1998