Ausgabe 13 - 1998berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Berlin 1898

2. bis 15. Juli

Goldfische werden inzwischen wohl in jedem Haus gehalten. Die zierlichen Fische nehmen sich im Glasbassin so allerliebst aus, dass man seine Freude an ihrem lustigen Treiben hat. Doch leider wird dem neckischen Gast aus Chinas Gewässern nicht überall die Sorgfalt zugewendet, die er verlangt.

Die Wohnungsfrage ist dabei in erster Linie zu lösen. Die üblichen runden, nach oben sich verengenden Aquarien geben dem Fischlein nicht genügend Spielraum zur Bewegung und erschweren ihm das Atmen. Auch füttern viele das kleine, zarte Fischlein mit Oblaten, Fliegen, Mücken und Würmern langsam aber sicher zu Tode. Die Krone aber wird der naturwidrigen Behandlung des kleinen Kerlchens aber dadurch aufgesetzt, dass das Wasser des Aquariums andauernd unnütz erneuert wird, so dass der arme Fisch alle möglichen Temperaturschwankungen aushalten muss, die selbst einen gesunden Menschen für ewig verschnupfen würden.

Das Glasbassin sollte mindestens 35 cm Länge, 22 cm Breite und 23 cm Höhe haben, so dass es 17 Liter Wasser fasst. Bei der Ernährung der Goldfische muss darauf Rücksicht genommen werden, dass die Tierchen richtige Omnophagen, Allesfresser, sind. Um den Rest kümmert sich der Fisch allein.

Ein betrunkenes Mädchen geht in der Nacht zum 4. Juli auf den Militärposten vor der Alexander-Kaserne an der Ecke Hirten- und Kleine Alexanderstraße los. Es bildet sich ein Menschenauflauf, zahlreiche Zuhälter wenden sich gegen die herbeigeeilten drei Schutzleuten, so dass den von der Kasernenwache noch ein Patrouille zu Hilfe geschickt wird. Das Mädchen wirft sich unter lautem Geschrei zu Boden und muss mit Hilfe von Soldaten zum Polizeirevier am Königsgraben getragen werden.

Der 4. Juli ist der Nationalfesttag der Nordamerikaner. Auch die in Berlin weilenden Bürger begehen diesen Tag aus Anlass des Krieges mit Spanien auf besondere Weise. Ihre Häuser sind mit dem Sternenbanner geschmückt, wie auch das Gesandtschaftsgebäude und das Konsulat. Bereits am Sonntag, den 3. Juli wurde von amerikanischen Familien ein Ausflug nach Friedrichshagen unternommen und im dortigen Wald ein Picknick nach echt amerikanischer Art veranstaltet.

Cléo de Mérode, die berühmte Tänzerin kommt nach Berlin, wie die Direktion des Wintergartens mitteilt. Sie hat einen Vertrag abgeschlossen, der schon am 1. November in Kraft tritt und sie für 30 Abende verpflichtet. Die populärste Tänzerin der Großen Pariser Oper hat sich durch ihre eigenartige Schönheit und durch die von ihr eingeführte Cléo-de-Mérode-Frisur ihren Weltruf verschafft. Sie erhält für ihr Berliner Gastspiel 45000 Francs Honorar.

Ein wüstes Durcheinander herrscht gegenwärtig auf dem Gebiet der Stallstraße, wo sich einst die Artillerie-Kaserne am Kupfergraben befand. Wer von der Ebertsbrücke zur Georgenstraße wandern will, glaubt, er sei am Ende von Berlin. Denn ein hoher Bretterzaun mit einer einzigen kleinen Tür sperrt das Terrain zwischen dem Stadtbahnbogen an der Georgenstraße und dem Kupfergraben ab.

Die neue Straße, die von der Ebertsbrücke als Verlängerung der Artilleriestraße in gerader Linie in die Georgenstraße geführt werden soll, ist schon zur Hälfte fertig. Aber zu beiden Seiten lagern Bauhölzer, Steine und Trümmer vom Abriss. Der frühere Kasernenhof ist aufgewühlt, in den großen Löchern steht bei schlechtem Wetter das Wasser, ist es trocken, backen abends Kinder Kuchen aus Sand und Lehm. Das Pflaster der Stallstraße, die ja ganz aus dem Straßenplan Berlins verschwinden soll, wird aufgerissen. Auch beginnt man die Häuser links der Stallstraße, von der Georgenstraße aus gesehen, mit ihren großen Hinterfronten und Gärten bis zur Prinz-Louis-Ferdinand-Straße, abzubrechen. Wenn erst die letzten Häuser den Spitzhacken der Arbeiter zum Opfer gefallen sind, dann soll dort ein neues, schönes Gebäude erstehen, eine neue Kaserne für das Alexander-Regiment. Diesem Bau gegenüber, sich an das Schloss Monbijou und seinen bis an die Spree hinunterreichenden Park anlehnend, wird ein Denkmal aufgestellt werden für den großen Dulder auf dem Kaiserthron.

Das Vereinsbureau Berliner Droschkenkutscher ruft mehr als 200 Kutscher auf, die von ihnen von März bis Oktober 1897 im Bureau abgegebenen Fundsachen, die von ihren Besitzern nicht in Anspruch genommen wurden, abzuholen. Was alles verloren wird, ist schwer zu glauben. Vom 17. bis 23. Juni wurden unter anderem als gefunden gemeldet: eine Brieftasche mit zwei Hundert-Markscheinen, zwölf Schirme, mehrere Operngläser, drei Sommerüberzieher, ein Portemonnaie mit Inhalt, eine Kiste Cigarren, und ein Orden mit großem Ordensband.

Westliche Berliner Vorortbahn soll die bisherige Dampfstraßenbahn, die vom Berliner Dampfstraßenbahn-Konsortium betrieben wird, in Zukunft heißen. Die schon lange vorbereitete Umwandlung des Unternehmens in eine Aktiengesellschaft ist durch die Konstituierung in die Wege geleitet.

Ein Kaffeehaus der Taubstummen befindet sich im Norden Berlins. In einem zweiten Abteil verkehrt die stille, streng abgeschlossene Gesellschaft aus Taubstummen. Sie können sehr gemütlich und heiter sein und unterhalten sich lebhaft und anregend. Zu bestimmter Stunde kommen sie im Kaffeehaus zusammen, sonntags sogar mit ihren Damen. Sie verständigen sich durch Zeichensprache, nur wenn dieses Zeichengespräch etwas erregt wird, wird die Gestikulation lebhafter, die Bewegung des Armes nachdrücklicher. Schach, Domino und Billard wird von ihnen fleißig gespielt. Die meisten haben in Anstalten Berufe erlernt, sie sind Goldschmiede, doch gibt es unter ihnen auch Schneider, Schuster, Metallgießer, Zeichner und Korbflechter.

Falko Hennig

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