Ausgabe 12 - 1998berliner stadtzeitung
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Die Ursprünge der Asphaltpädagogik

Berlins Mitte ist größer geworden und Wedding gehört seit neuestem zu diesem äußerst erlauchten Kreis. Das neuerwachte Interesse an diesem Bezirk gilt vor allem seiner Hauptstadtfähigkeit. Oder genauer gesagt, seiner fehlenden. Wer und was auch immer das definieren mag.

Dagegen hat StattReisen, der älteste Berliner Anbieter für Stadtrundgänge, schon immer den Wedding mit in seine Führungen aufgenommen. Alte Liebe könnte man es nennen, denn die Geschichte von StattReisen - dieses Jahr feiert man 15jährigen Geburtstag - ist eng mit dem Bezirk Wedding verbunden.

Gleich vor Ort hat StattReisen sein Büro in der Malplaquetstraße am Leopoldplatz und organisiert von dort aus jährlich ca. 1500 Stadtführungen zur Berliner Sozial- und Kulturgeschichte, zum Alltag in der Metropole und zu Fragen der künftigen Stadtentwicklung. Nicht von ungefähr wurde das Prinzip der historischen und politischen Bildung "auf der Straße" im Wedding aus der Taufe gehoben.

Seit Mitte der 70er Jahre mieteten immer mehr Studenten freigewordene, erschwingliche Wohnungen in Weddinger Altbauquartieren, fühlten sich aber zunächst ein wenig wie in der Diaspora - so weit entfernt von den Zentren des studentischen Lebens in Charlottenburg, Schöneberg und Kreuzberg. Nur wenige Kneipen, allen voran das Nowawes in der Antonstraße, das Café Cralle in der Hochstädter Straße und das Zum Zum in der Soldiner Straße waren die einzigen Kommunikationsorte für die Neu-Weddinger, die das Leben um sich herum anfangs mit einer Mischung aus Neugier und Befremden beobachteten. Die Sanierungsplanung lief auf Hochtouren, das Prinzip der Flächensanierung konnte vor allem im Gesundbrunnen praktisch widerspruchslos durchgesetzt werden. Das ganze Viertel zwischen Brunnenstraße und dem Güterbahnhof der Nordbahn, das einst von mehr als 40 000 Menschen bewohnt war und damals ähnlich aussah wie das erhaltene Altbauquartier an dem zum Bezirk Mitte gehörenden Teil der Brunnenstraße, wurde nach und nach "entmietet", und vielerorts gähnten schon leere Fensterhöhlen. Das Kiezleben mit seiner Nachbarschaftskultur flackerte nur hier und dort noch auf, mehr und mehr "Zwischenmieter", ausländische Familien und eben Studenten, bestimmten das Bild. Mit dem Abriß der Häuser sollte gleichzeitig ein "überkommenes" Milieu eliminiert werden - so das erklärte politische Ziel der Weddinger Sanierungsplaner.

Die im Wedding alleinherrschende Sozialdemokratie machte sich damals zur Speerspitze des "modernen" Stadtumbaus. "Was sich im Altbau zusammenfindet, ist nicht nur alt an Jahren. Es ist eine überalterte und veraltete Sozialstruktur, in die wesentlich Elemente der modernen Gesellschaft keinen Boden gewinnen konnten." (Voruntersuchung zur Sanierung im Wedding, Katrin Zapf, 1969.)

Die studentischen Zwischenmieter waren zunächst nur Chronisten dieser Entwicklung, meist auf der Suche nach Abenteuern, einige aber auch schon mit der Idee, solche Gebäude für die Verwirklichung eigener Ideen umzufunktionieren, und sei es auf nicht legalem Wege. Mit der Besetzung einer ehemaligen Hutfabrik in der Prinzenallee 58 war im Februar 1981 ein Anfang gemacht, schon vorher zog die Kulturinitiative Pankehallen mit Kurzzeit-Nutzungsvertrag in die alte Arnheimsche Tresorfabrik, den heutigen Bildhauerwerkstätten an der Panke zwischen Bad- und Osloer Straße.

In den Pankehallen traf sich die Weddinger Geschichtswerkstatt, ein lockerer studentisch geprägter Kreis, der angesichts der Abrißpolitik begonnen hatte, sich mit dem Vorleben der Häuser zu beschäftigen und dabei vor allem dem Mythos des "Roten Wedding" nachspürte, von dem so gar nichts geblieben zu sein schien.

Aus der Weddinger Geschichtswerkstatt ging 1983 StattReisen Berlin e.V. hervor, zunächst mit dem Angebot eines einzigen Stadtrundganges: "Hallo Roter Wedding". Der Titel war einem Graffitto entlehnt, das jemand auf eine Betonfassade an der Kösliner Straße gesprüht hatte. Zu den Stationen gehörten u.a. das ehemalige Obdachlosenasyl "Wiesenburg" an der Wiesenstraße, das Betriebsgelände der AEG in der Brunnenstraße, die Nazi-Folterstätte "Glaskasten", die Versöhnungs-Privatstraße, das besetzte Haus Prinzenallee 58 und die Überreste des einstigen Kurbetriebes und der späteren Vergnügungs- und Kinomeile an der Badstraße.

Bis heute gibt es zwischen StattReisen Berlin und dem Bezirksamt Wedding übrigens praktisch keinerlei Kontakt, obwohl der Verein mit seinen Konzepten weit über Berlins Grenzen hinaus Anerkennung - und auch Nachahmer - gefunden hat. Manch anderer Bezirk würde vielleicht eine solche Einrichtung in seinen Grenzen für die Eigenwerbung nutzen, nicht so der Wedding.

Mit den Jahren zogen die StattReisen-Führungen ein Netz über die ganze Stadt, und heute schwärmen die Stadtreisenpioniere noch weiter nach Osten aus. Auch Lemberg, Tschernowitz, Wilna und Odessa stehen auf dem Programm.

Martin Düspohl

Führung "Hallo Roter Wedding" am 28. Juni, 14 Uhr und am 3. August, 11 Uhr, Treffpunkt vor Schering, U-Bhf Reinickendorfer Str., Ausgang Reinickendorfer Str.

Das aktuelle Sommerprogramm unter Tel. 4553028

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  Ausgabe 12 - 1998