Ausgabe 12 - 1998berliner stadtzeitung
scheinschlag

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weiter wühlen wollen

Gespräch mit Chance 2000-Mitarbeitern und dem Direktkandidaten Frank Scheffler (Wahlkreis Neukölln)

Detlev Neufert, 48 Jahre, Filmregisseur
Ilka Schulz, 33 Jahre; Künstlerin
Frank Scheffler, 36 Jahre, arbeitsloser Physiker

Was will eigentlich Chance 2000? Worum geht es der Partei?

Detlev: Warum wird diese Frage nicht den anderen Parteien gestellt, da wäre sie eigentlich berechtigter. Wir wollen die Leute ernst nehmen, ihnen klar machen, daß sie eine Persönlichkeit sind, daß man sie auch ablehnen kann. Es geht darum mit den Leuten zu reden, das ist unheimlich wichtig.Und nicht, wie uns mancher vorwirft, andere, also die Behinderten und die Arbeitslosen, als Objekte zu benutzen.

Ilka: Was mir aufgefallen ist, wenn Leute fragen, was das für eine Partei ist, was die für Inhalte hat, ist, daß die meisten mit Freiheit nicht zurecht kommen. In dem Augenblick, wo es heißt, es geht um dich selber, du kannst dich selber wählen, selbst aktiv werden, schreit jeder nach einem Programm, nach einem Halt. Und in dem Moment, in dem man sagt, du hast einen Raum, in dem man frei agieren kann und du für dich selbst einstehst, dann fallen die einfach um: Was ich soll jetzt was selber machen. Wie denn, was denn, da muß es doch ein Programm geben. Und das erschreckt mich oft, daß in so einem freien Raum, in dem alles möglich ist, niemand mehr diesen Raum nutzen will.

Ist ja auch schwierig. Andererseits ist diese Individualismus-Schiene ja nicht so ganz neu. Das gibt´s sogar in anderen Parteien, mit Seiteneinsteigern, die mit dem glaubhaften Willen reingehen, sich selbst zu verwirklichen und dafür die Strukturen zu nutzen. Wo ist eure neue Qualität?

Ilka: Die Parteiprogramme von anderen Parteien, die haben ja konkrete Anliegen, konkrete Themen, die durchdiskutiert werden. Aber hier bei Chance 2000 könnte ich dir kein konkretes, soziales Thema nennen, außer daß wir über Menschen reden.

Detlev: Das hat eher mit einer asiatischen Philosophie zu tun, der Weg ist das Ziel. Den Weg trotzdem zu gehen, obwohl man nicht weiß, was nachher dabei herauskommt. Was mich aber dazu gebracht hat hier mitzumachen, das war in dem Anfangsprogramm die Verbindung von Achternbusch, Joseph Beuys, Alfred Edel, also die Verbindung von ganz bizarren, klaren, nicht fassbaren Figuren der deutschen Geschichte. Und der größte Fehler der Grünen ist beim Bundestagswahlkampf 1980 gewesen, daß sie Joseph Beuys nicht als Kandidat zugelassen haben.

Ist Chance 2000 dann nicht ein Aufwasch von verpaßten Chancen der 80er?

Detlev: Man kommt aus der Geschichte gar nicht heraus. Wenn es Sachen gibt wie in den 80ern, in den 60ern, in den 20ern oder auch 1789, die gut waren, warum soll ich die denn nicht nehmen?

Ilka: Da muß sich jeder Künstler immer wehren gegen so einen Vorwurf, daß das schon da gewesen sei. Es gibt bestimmte Begriffe, die immer wieder auftauchen, ohne daß sich jemand miteinander abgesprochen hat, also muß es einen Bedarf geben, diese Richtungen zu entwickeln.

Wenn ihr nur so global sagt: wähle dich selbst, erkenne dich selbst, verwirkliche dich selbst, das ist bar jeder Konkretion, bar jeden Inhalts.

Frank: Für mich ist das sehr konkret, aber ich will das nicht so akademisch sehen wollen. Was mich am meisten dazu animiert hat, hierbei mitzumachen, abgesehen davon, daß ich die ganze Sache einfach schön finde, also vom Herzen her einfach schön, ist der Satz: Beweise, daß es dich gibt. Damit hat man mich gefangen. Die anderen Parteien sagen nämlich: Beweise, daß es dich nicht gibt. Verschwinde.

Dieser Beweis funktioniert doch nur auf der medialen Ebene. Du wirst durch den Parteikörper verstärkt, die Phonzahl wird aufgedreht, aber es ist immer noch kein Inhalt drin.

Ilka: Das ist natürlich ein Riesenanspruch. Man kann ja nicht auf Hochtouren laufen, dann an den Abgrund rennen und schreien: jetzt springe ich, und traut sich nicht zu springen. Es geht auch darum, einen Kick in den Kopf zu kriegen. Ein kleiner Schritt ist auch wichtig. Wenn ich selber einen Schritt tun kann, dann finde ich das wichtiger, als abstrakte Parteiprogramme in die Welt zu plärren. Wenn jeder für sich bewußt wird, einen Schritt zur Seite tritt und einfach guckt, was hier eigentlich passiert, dann ist das ein Riesengewinn.

Detlev: Als das Chance 2000-Buch in Köln vorgestellt wurde, waren 500 Leute da. Die haben das, was Christoph Schlingensief und Carl Hegemann erzählt haben, aufgesogen wie ein trockener Schwamm. Wenn das nur eine Clownerei gewesen wäre, dann wären die Leute nach 20 Minuten wieder gegangen. Es gibt eine Inhaltsbestimmung, die eine ganz tiefe menschliche Dimension hat, die nicht nur über den Kopf geht. Der Inhalt ist nicht im Papier zu finden, sondern in den Leuten, in Ilka, in Frank, in mir, in Christoph, in allen Direktkandidaten und Parteimitgliedern.

Ilka: Die Leute spüren, da ist was. Man weiß noch nicht genau, was es ist, aber es gibt eine Lust, dabei zu sein. Es existieren keine Schubladen, man kann nicht sagen, ist es Theater, ist es Kunst, ist es Politik, sondern daß es eine Gratwanderung zwischen verschiedenen Bereichen ist, das finde ich neu und aufregend.

Diese Grenzüberschreitung passiert doch auch auf dem SPD-Parteitag, wenn Schröder und Lafointaine zusammen singen.

Detlev: Das ist keine Grenzüberschreitung, das ist eine Toilettenbegehung.

Es ist keine Grenzüberschreitung im positiven Sinn, wie ihr das diskutiert, aber es ist ein Indiz dafür, daß diese starren Grenzen schon gar nicht mehr da sind. Bei Chance 2000 wird - zwar etwas verschoben - etwas reproduziert, was sich im konservativen Lager auch abspielt.

Detlev: Der entscheidende Unterschied wurde immer klar gemacht mit dem Unterschied zwischen System1 und System 2, ich habe auch eine Weile gebraucht, bis ich das kapiert habe. Die Überprüfung des Systems 1 macht keine Partei. Die akzeptieren das System 1, sie sind darin gefangen und wollen auch darin bleiben. System 2 heißt, du bist draussen und siehst das System 1. Und System 1 ist nicht nur eine geschlossene Burg, sondern das bist du selber ja auch. Das heißt, du gehst aus dir selber raus und guckst einmal von außen auf dich und fragst, was mache ich da eigentlich? Was habe ich für Qualitäten, die ich noch nie fest gestellt habe? Wie weit muß ich mein eigenes Bild davon beschädigen lassen? Und dann wirst du unglaubliche Absturzprobleme haben. Wenn du etwas neues erreichen willst, etwas ganz anderes, das den Menschen schöner, herzlicher, freier macht, dann muß du dich auf den Weg machen und dieser Weg ist nicht einfach, das ist er nicht. Aber wenn du sagst, ich wähle mich selber, dann ist der erste, allerschwierigste Schritt schon getan.

Ilka: Es ist unendlich mutiger, zu sagen, es ist ein Prozeß, also es entwickelt sich. Ich finde fertige Sachen langweilig. Auch in System 1 kann ich mich nicht selber nicht verorten, bin zersplittert und letztendlich auch auf meine eigene Perspektive zurückgeworfen. Die bietet mir zwar keine Sicherheit, aber immer noch eine größere, als wenn ich mir die Brille einer politischen Partei aufsetze.

Detlev: Aber da ist ein qualitativer Unterschied. Das könnten wir ja auch alle machen, wir brauchten ja nicht bei Christoph zu arbeiten, sondern könnten was ganz anderes machen. Ilka könnte zum Beispiel wunderbare Kunst machen und soviel Geld verdienen wie Markus Lüpertz. Aber warum tut sie das nicht?

Warum tust du das nicht, Ilka?

Ilka: Ich hatte zuletzt eine Ausstellung in Münster und ich empfand eine große Leere im Aus-stellen, im Produzieren und Hinstellen und Leute einladen, die sich das angucken können. Und ich fand es viel spannender, am Leben teilzuhaben und dran zu sein, als Skulpturen zu bauen und in ein Museum zu gehen und sagen: Guckt mal hier und das habe ich Euch noch mitzuteilen.

Lauft Ihr nicht Gefahr, daß, während Ihr einen neuen Raum mit neuen Begriffen schafft, die Asylgesetze weiter verschärft werden, Konservatismus um sich greift, die Arbeitslosigkeit weiter steigt, und und und, daß alles weiter läuft wie bisher und bis Ihr mal neue Strategien gefunden habt, es schon längst für alles zu spät ist. Ist das nicht alles ein vielleicht hochgradig sympathischer Rückzug, den Ihr betreibt?

Frank: Wer soll das beurteilen können? Das sind doch Sachen, die sind außerhalb jeder Reichweite, auch für Helmut Kohl. Das ist auch keine gute Startposition, das ist eine System 1 Startposition, die in System 1 Mechanismen hineinführt. Hier sind jetzt so viele schöne Sachen gesagt worden.

Detlev: Und dumme Sachen.

Frank: Eins ist mir noch durch den Kopf geschossen sind. Eine Geschichte, um die Wirksamkeit zu überprüfen. Ich bin da zwar nicht so versiert, aber es gab in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung diese Frau, die hat sich im Bus einmal falsch hingesetzt und das hat dann ganz viele Dinge ausgelöst. Warum sollte Chance 2000 nicht auch so etwas auslösen?

Was passiert eigentlich, wenn Du gewählt wirst?

Frank: Das ist eine berechtigte, aber illusorische Frage. (überlegt) Ich glaube, das wäre gut. Ich würde was draus machen, nicht nur die Diäten absitzen wollen, sondern entsprechend weiter wühlen.

Das Interview führten Tom Mustroph und Stefan Strehler

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