Ausgabe 12 - 1998berliner stadtzeitung
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Das politische Theater

Die Volksbühne vor der nächsten Runde

Während in Frankreich noch um die mentale Ordnung der Nationen gekickt wird, trudelt die Theatersaison ins Seitenaus ohne direkten Kräftevergleich. Ein Theater, über das nicht gesprochen wird, ist als Theater bekanntlich nicht viel wert.

Viel wurde in den letzten Wochen über Peymann gesprochen, dessen Ankunft am Berliner Ensemble sehnsüchtig erwartet wird. Der zornige 60-jährige, der (in Wien) jahrelang den üppigsten Theateretat der Welt verwaltet hat, verspricht wohlgeformten Aufruhr. Das Theater müsse sich um die Ohnmächtigen kümmern und die Mächtigen angreifen, hat er auf einer Pressekonferenz erzählt. An diesen Worten würde man Theater gern mal wieder messen. Nicht nur Castorf fürchtet, daß Peymann von den österreichischen Verhältnissen verwöhnt ist, wo es bekanntlich ausreicht, ein Stück von Frau Jelinek zu inszenieren, um einen Eklat zu haben.

Auch Ostermeier, der andere Theatermann, der sich im Dauergespräch befindet, sieht Peymanns Ankunft eher gelassen entgegen. Diese Gelassenheit ist jetzt schon seine größte Tugend. Sein Theater bekennt sich bislang zu einer ästhetisch feinen, so abwechslungsreichen wie eigenständigen und zeitgenössischen Harmlosigkeit, aber das in aller Offenheit. "Genau dieses schockierende, junge, wilde Theater machen wir ja gerade nicht", erzählte Ostermeier in einem Interview. Und weiter: "Das hatte zur Konsequenz, daß Leute zu unseren Aufführungen kamen, die aus der Ecke der Event-Kultur kommen und nur auf den Schluß gewartet haben und dann desinteressiert reagierten. Das am bürgerlichen Geschmack geschulte Publikum dagegen begegnet uns sehr interessiert." Ostermeier bekennt sich bislang zu einem eher erzählenden Theater, wobei er sich - bei allem Respekt vor seiner bisherigen Arbeit - wohl noch auf der Suche befindet, nach einer Form, die so unterhaltsam wie politisch sein kann. Als zukünftiger Schaubühnenchef nach Peymann befragt, verdeutlicht er, was ihn am meisten beschäftigt: "Der interessanteste Kontrahent ist aber Castorfs Volksbühne. Und darüber, wie wir unser Verhältnis zu ihm artikulieren, grübeln wir am meisten."

Nicht nur Ostermeier spricht dafür, daß die Volksbühne immer noch das potenteste Theater der Stadt ist. Offen ist nur, wie lange das noch so bleiben wird. Ab der nächsten Saison stehen Veränderungen ins Haus. Matthias Lilienthal, Chefdramaturg und hinter den Kulissen ein wichtiger Drahtzieher für die Öffnung des Theaters in Richtung Pop- und Jugendkultur, hat gekündigt. Gleichzeitig geht auch die Dramaturgin Barbara Mundel, die unter anderem viel für Schlingensief gearbeitet hat. Zuletzt hatte man bei der Volksbühne den Eindruck, das Theater würde kaum noch eine Rolle spielen. Zwischen "Loving the Alien", Foucault-Tribunal und Chance 2000 drohte das Kerngeschäft völlig unterzugehen. Man ist ein bißchen auf Spekulationen darüber angewiesen, daß diese Situation zwischen dem Theatermann Castorf und dem Berufsjugendlichen Lilienthal (Selbstbezeichnung) zu Spannungen führte, aber weit hergeholt sind sie nicht. Sicher ist, daß Castorf die neue Situation als Herausforderung begreift. Daß der Hauptstadtkulturfonds 450000 Mark, die bereits zugesagt waren, zurückgezogen hat, bringt die Volksbühne zwar in Bedrängnis, zeigt aber, daß sie auf einem guten Weg ist. Das Geld wurde zwar ohne Begründung, aber offensichtlich wegen der - von der Volksbühne unterstützten - Schlingensief-Parteigründung gestrichen. Außerdem hat der Kultursenat bei den Etatverhandlungen durchgesetzt, daß die billigste Eintrittskarte in der nächsten Saison 12 Mark kosten muß.

Ungeachtet der marketingmäßigen Selbstschmückungen befindet sich die Volksbühne weiterhin in einer Situation, in der sie die Idee vom Theater als einem gesellschaftlichen Widerstandsnest pflegt und an einer Erneuerung arbeitet. Wer Castorfs letzte Inszenierung "Schmutzige Hände" von Sartre (letztmalig 27. Juni) gesehen hat, hat Theater selten so verspielt, intelligent, modern, politisch und musikalisch gesehen. Politisches Theater mit viel Spaß.

Stefan Strehler

© scheinschlag 2000
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