Ausgabe 12 - 1998berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Wann kommt's?

Dann kommt's: Erst im Bus erwischt, dann in der U-Bahn, in der S-Bahn, in der Straßenbahn. Ich könnte auch Tram sagen, aber dann lachen mich alle Neuberliner aus, die gehört haben, daß "Tram" ein Begriff ist, der den Berlinern aufoktroyiert worden ist. Ja, "Tram" kommt ihnen nicht über die Lippen, aber ÈaufoktroyiertÇ, das verwenden sie seit der ersten Semesterwoche fließend. Ich glaub, ich sag doch "Tram". Erwischt also in U-Bahn, S-Bahn, Bus und Tram. Vier Mal in zwei Wochen. Wenn ich jetzt noch auf der Fähre erwischt werde, am besten auf der Fähre Nr. 12 in Köpenick, die fährt nur eine Station weit, dann geh ich als der dümmste Schwarzfahrer Berlins in die Geschichte ein. "Und außerdem hat er Tram gesagt! War der vielleicht doof, haha!"

Aber ich fahr weiter schwarz. Da lernt man was über die Welt.

Abschweifung. Vor dem Mauerfall: In Westberlin führt die ÖTV ein strenges Regime. Jeder muß Arbeit haben. Wer gar nichts anderes kann, der wird in eine dunkelblaue Kontrolleursuniform gesteckt und wartet auf seine Frühverrentung. Wenn er einen Waggon entert, ruft er, bevor die Türen wieder zugehen: "Fahrausweiskontrolle!" So wird auch der letzte Schwarzfahrer geweckt und kann rechtzeitig aussteigen. Und der Kontrolleur spart sich den Schreibkram. So gemütlich war das, als Westberlin noch vom Kommunismus umzingelt war.

Im Osten war's noch gemütlicher, und man mußte schon ultradämlich sein, um sich hier beim Schwarzfahren erwischen zu lassen. Ungefähr so dämlich wie der Westler, der seinen ganzen Zwangsumtausch schon ausgegeben hatte und demzufolge die zwanzig DDR-Mark Strafe ... - "Natürlich eins zu eins, was denken Sie denn?" Mein Gott, ich hätt´ mir in den Arsch beißen können! Ende der Abschweifung.

Ja, die Welt, denke ich bei mir. Schon irgendwie Scheiße, wie sie eingerichtet ist. Bahnhof Südstern, drei Schnauzbärte um die vierzig steigen ein. Ungewöhnliche Konstellation für die Gegend hier, naja, vielleicht 'ne schwule Clique. Nee, dafür sind die Typen echt zu ungepflegt. Aha, der Bullige bleibt stehn, die zwei andern gehn nach hinten. Der eine stellt sich an die mittlere Tür, der andere an die hintere. Die Türen gehn zu, und ich weiß, was jetzt kommt.

"Tach, bitte ma' die Fahrausweise!"

Ende des sozialdemokratischen Zeitalters. Manchmal hab ich so'n Gefühl, was damit gemeint sein könnte.

Vor mir steht der Bullige. "Fahrausweis." Er ist einen Kopf kleiner als ich. Ich kann seinen Mund nicht sehen. Ich seh nur, wie sein Schnauzbart wackelt bei dem Wort "Fahrausweis". Vielleicht hat er ja in Wirklichkeit hinterm Schnauzbart ein kleines Tonband, damit er sich im Lauf des Tages den Mund nicht fusslig redet. Obwohl, der Mund ist ja schon fusslig. Dieser Kontrolleur, denke ich bei mir, sieht aus, als ob er nicht bis drei zählen könnte. "Ich weiß, wat sie jetzt denken", sagt er. "Eins, zwei, drei. Zufrieden?" Ich bin ein bißchen beschämt.

Ich sage: "Ich hab kein' Fahrschein."

"Macht sechzig Mark", sagt der Bullige.

Ich: "Denken Sie manchmal über den Tod nach?"

Er: "Wat?"

"Ob Sie manchmal über den Tod nachdenken."

"Na, das ist ja 'n Ding. Sieht man mir det an?"

Ich will ihm die sechzig Mark geben, da sagt er: "Nee, nee, lassense man stecken. Hammse 'n bißchen Zeit?"

Wir steigen am Hermannplatz aus, setzen uns in der hohen Bahnhofshalle auf eine Bank und reden miteinander bis in den Abend. Ja, denke ich bei mir, man muß die Menschen einfach da abholen, wo sie stehen. Vielleicht sollte ich Busfahrer werden.

Bov Bjerg

Hans Duschke dazu: Womöglich hat das sozialdemokratische Zeitalter ja erst begonnen.

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