Ausgabe 11 - 1998berliner stadtzeitung
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Die Sehnsucht der Kuscheltiere

Der Dichter Erwin Strittmatter hat 1963 ein Gedicht für die Frauenzeitschrift Für Dich über eine Ente geschrieben, worin die Zeile vorkommt Die Augen sind nestwärts gewandt. Ein Übertragungsfehler führte dazu, daß beim zuständigen Redakteur aus dem Blick nach innen westwärts wurde, und da das nicht sein durfte, ließ er stattdessen ostwärts drucken.

Kurzerhand die Richtung änderte auch eine Gruppe von Westberlinern, die vor zehn Jahren das sogenannte Lenné-Dreieck besetzt hielten. Dieses vier Fußballfelder große Grundstück lag direkt an der Mauer auf westlicher Seite (ungefähr dort am Potsdamer Platz, wo heute Sony baut), gehörte aber der DDR. Am 1. Juli 1988 sollte es im Zuge eines Gebietsaustausches an die Westberliner Regierung übergeben werden. Aus Protest gegen den geplanten Bau einer Autostraße wurde das Grundstück im Anschluß an eine Demo besetzt. Da die Westberliner Polizei keine rechtliche Handhabe für die Räumung des Geländes hatte, entwickelte sich eine vierwöchige Groteske, die in einen Stellungskrieg ausartete. Von der einen Seite flogen Steine, von der anderen Tränengaspatronen. In der Nacht zum 1. Juli war es vorbei mit dem Westberliner Kleinkrieg. Fast 200 Menschen aus dem belagerten Dorf machten wahr, was sie sonst immer zu hören bekamen: Sie kletterten nach drüben. Es war die spektakulärste Massenflucht von West nach Ost seit dem Mauerbau. Vor der Westberliner Polizei fanden sie bei den überraschend freundlichen DDR-Grenzbeamten Zuflucht. Während der damalige Westberliner Innensenator Kewenig (wohl in Vorahnung der historischen Ereignisse) wetterte, daß die DDR ihr Gebiet "nicht in dem Zustand übergeben habe, wie man es von einem anständigen Geschäftsmann erwarten kann", wurden die Geflohenen von den Grenzpolizisten (die sonst darauf achten, daß keiner flieht) mit Schrippen und Zigaretten gefüttert.

10 Jahre später rüstet sich die vereinigte Berliner Polizei, um das größer gewordene Nest sauber zu halten. Daß rigide Ordnungspolitik nur ein schlechter Ersatz für eine vernünftige Sozial-, Kultur und Wirtschaftspolitik ist, ahnt auch der Ex-General und heutige Innensenator (wenn diese Erkenntnis auch seinen Feldzug für ein sauberes Berlin nicht stoppen wird). Schönbohm persönlich präsentiert am 3. Juni das neue Mitglied der Berliner Polizei, einen Spezial-Teddybären. "Er trägt eine Uniform, ist aus Plüsch und guckt stets keck", heißt es aus dem Innnensenat. Der Polizei-Teddy soll seine menschlichen Kollegen auf zukünftigen Einsätzen begleiten und im Idealfall kleine Kinder trösten.

Zum Einsatz kommen könnte der neue Kuschel-Kollege schon ein paar Tage später, wenn am 10. Juni das öffentliche Gelöbnis vor dem Roten Rathaus ansteht. 300 Rekruten aus Kladow (Westberlin) und Holzdorf (Brandenburg) werden dann öffentlich militärisch vereidigt. Ein großer Tag für die Kuscheltiere, die für den reibungslosen Ablauf eines völlig überflüssigen Ereignisses sorgen sollen. Daß in Kuschelecken Verbrechen stattfinden, muß nicht wundern, wenn die Sehnsucht nach Ordnung zivile Vernunft dominiert. Daniela Dahn, von der auch die Geschichte mit der Ente übernommen ist, beendete ihr Buch Westwärts und nicht vergessen mit zwei konkreten Vorschlägen für das neue Deutschland. Sie forderte die Abschaffung von Wahlkämpfen und die Abschaffung des Militärs. "Die eingesparten Mittel reichen allemal, den Staat völlig zu entschulden und allen Arbeitslosen samt den einstigen Soldaten Arbeitsplätze (...) zu finanzieren. Die freigesetzten Wissenschaftler entwickeln Computerprogramme, die es ermöglichen, künftig überhaupt alles Unangenehme, Rohe und Gewalttätige am PC abzureagieren und nur noch das Schöne, Erfreuliche und Zärtliche, das `Programm des Lustprinzips« zu leben ...", schrieb sie in der stillen Hoffnung, daß man endlich nicht mehr nestwärts blicken müsse.

st

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