Ausgabe 11 - 1998berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Wann kommt endlich die Regierung?

Harald ist einer jener Menschen, die jetzt schon wissen, wo sie Silvester 2000 verbringen, während ich oft nicht weiß, wo ich heut´ Nacht schlafen werde. Aber in einem sind wir uns einig: "Wann kommt endlich, endlich die Regierung!" ist unser täglicher Stoßseufzer angesichts der ´Berliner Misere´.

"Der Fisch stinkt vom Kopfe her", schreiben wir in hilfloser Wut auf Photographien unserer Landespolitiker; unfreundliche Kellner bekommen von uns keinen Pfennig Trinkgeld; zweimal in der Woche stehen wir am Rosenthaler Platz und lachen laut über alle, die bei Rot noch stehen. Das ist unser Protest. (Und was tust du?)

Anschließend, bei einem trockenen Weißwein (keinem sehr guten, aber wo bekommt man heutzutage noch einen guten trockenen Weißwein?), sitzen wir beisammen und analysieren die Lage.

"Ich habe", sage ich, "Grönemeyer im Radio gehört: daß er jetzt auch in Berlin wohnt, hier sei es so kreativ, so spannend und lebendig."

"Von den Einheimischen", Harald blättert die ´Berliner´ durch und deutet auf einen Artikel, "geht diese Kreativität sicher nicht aus. Wenn ein Christoph Schlingensief, Schwiegersohn aus Westfalen, das Aufregendste ist, was hier geschieht, ... Und spannend?
Diese muffige Bösartigkeit, die sich SCHNAUZE nennt? Spannend ist doch nur, wie oft man blöde angemacht wird, von hormonzerfressenen Jugendlichen, von Menschen in Uniform, Rentnern und Drogenopfern aller Art. Und wer ist hier lebendig? Die Arbeitenden etwa, die nicht mehr zur Besinnung kommen und nur ´mal ausschlafen´ möchten, oder die Arbeitslosen, die in einem Dämmerzustand vor dem Fernseher auf die nächste Mahlzeit warten?"

"Ich weiß nicht? Ist das nicht doch etwas hart."

"Ein grober Keil auf einen groben Klotz. Dieses arrogante Getue, als sei hier der Mittelpunkt von irgendwas. Der Mittelpunkt der Mittelmäßigkeit: Das ist Berlin!"

"Also doch", sage ich.

"Wie?"

"Doch Mittelpunkt," sage ich, "Mittelpunkt der Mittelmäßigkeit."

"Na und?"

"Deswegen sind wir hier richtig."

So gelassen und mit einem Scherz kann ich reagieren, weil ich in Urlaub war: Vier Tage auf der Ostseeinsel X. X, denn ich möchte nicht, daß noch mehr Leute kommen und alles kaputtmachen. Wenn ein Fleckchen Erde dem Touristen gut gefällt, dann zögert er nicht und baut so lang daran herum, bis eine Einkaufsstraße und eine Autobahn entstanden sind.

´Urlaub ohne Auto´ verspricht ein Werbeplakat aus den 30ern und so ist es bis heute geblieben. Die Insel ist klein und nur durch eine Fähre zu erreichen. Jedes Haus vermietet Zimmer. Die Zahl ist groß, die Preise niedrig, für die Ureinwohner dennoch ein willkommenes Zubrot zur Arbeitslosenhilfe. Früher waren angeblich alle Fischer - das lohnt sich nicht mehr. Jetzt fahren die Männer in Pferdefuhrwerken herum und vermieten Fahrräder, die Frauen kümmern sich um den Haushalt.

Die wenigen Touristen lassen sich in drei Gruppen einteilen: Die Frau, die liest - einsam sitzt sie im Strandlokal, vor sich einen kalten Milchkaffee (vereinzelt auch männliche Exemplare); das Rentnerehepaar mit Wanderschuhen und Regenjacke bildet die Mehrheit; kinderlose Paare in allerlei Geschlechterkombinationen die dritte Gruppe.

Zwei Tage lauf ich wie angestochen herum, am dritten Tag, ein böiger Wind war aufgekommen, sehe ich, wie das Fahrrad eines lokalen Handwerkermeisters umfällt, es war zu schwer mit Werkzeug beladen. Der Handwerker tritt aus dem Haus, sieht sich die Bescherung an - nochmal -, sagt: "Och, das kann liegen bleiben" und geht wieder hinein.

Am dritten Tag hab´ ich ihn verstanden. Am vierten mußte ich zurück.

Und die Erholung ist auch schon wieder beim Teufel.

Hans Duschke

Bov Bjerg meint dazu: Vier Tage Urlaub: In Japan ist das normal. Auch in den USA.

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  Ausgabe 11 - 1998