Ausgabe 08 - 1998berliner stadtzeitung
scheinschlag

Diese Ausgabe

Inhaltsverzeichnis


Zur Homepage

"Die Bezirke tun einfach nichts!"

Gespräch mit Prof. Otto Schlosser zur Obdachlosenpolitik

Prof. Schlosser von der Alice Salomon Fachhochschule für Sozialarbeit in Schöneberg ist Mitautor einer Konzeption zur "Wohnungssicherung und Woh- nungsversorgung in Wohnungsnotfällen", die eine vom Senator für Soziales berufene Kommission im März 1995 vorgelegt hatte. Wir wollten wissen, wie sich die Obdachlosenhilfe heute, drei Jahre danach, darstellt. Das Gespräch führte Harald Wernicke.

scheinschlag: Damals sind Sie von 9000 Obdachlosen in Notunterkünften ausgegangen, wie sieht es heute aus?

Schlosser: Die Zahl ist eher höher. Es sieht so aus, daß die Obdachlosenzahl, die durch das "geschützte Marktsegment" (Wohnungskontingent für Obdachlose laut Vereinbarung zwischen Senat und Sozialem Wohnungsbau, Red.) mal auf 7000 zurückgegangen war, jetzt wieder gut über 10000 liegt. Der Zuwachs ist beständig, obgleich das Marktsegment gut funktioniert und dort jährlich etwa 1600 Haushalte mit Wohnungen versorgt werden.

Es müßte nicht nur das Marktsegment auf 3000 Wohnungen aufgestockt werden, was zum wiederholten Male im Abgeordnetenhaus gescheitert ist, es müßten sich auch Wohnungsakquisiteure auf den Weg machen. Die Vermieter kooperieren gerne mit der Behörde, weil die ja bei der Zahlung zuverlässig ist, wenn die Wohnungen denn nicht nur mit schwierigen Klienten vollgestopft würden, sondern wenn man auch ein soziales Betreuungssystem mitliefern würde. In Schöneberg wurden durch Wohnungsvermittlung mit ambulanter sozialer Betreuung für 30 Haushalte, die vorher in Pensionen untergebracht waren, in einem Jahr 400000 DM eingespart. Das ist menschliche Sozialarbeit, kostensparend und beschäftigungswirksam: durch eingesparte Gelder kann Personal eingestellt werden. Ähnlich praktiziert es auch der Bezirk Mitte. Ein Problem ist nämlich, daß etwa 15% dieser Haushalte immer wieder auffällig werden. Zum Marktsegment sollte ein flächendeckendes System ambulanter Sozialarbeit gehören: z.B. müssen die Leute an den Termin beim Arbeitsamt u.ä. erinnert werden. Die fallen sonst, wenn die Gelder nicht fließen, wiederum als Mietschuldner auf.

Ein großer Teil der Klienten nimmt eine Mahnung oder fristlose Kündigung oder gar eine Räumungsklage einfach nicht wahr. Die meisten Gerichtsurteile sind Säumnisurteile, weil die Betroffenen da nicht hingehen. In diesen Fällen müßte sich das Sozialamt auf den Weg machen, das macht der Bezirk Mitte, die gehen sofort los auch bei einer Mahnung. Und wenn denen vorher alles durch die Lappen gegangen ist, kommen sie bei einer Räumung mit dem Scheck und wenden sie noch ab.

scheinschlag: Schöneberg und Mitte betreiben also intensive präventive Arbeit. Wie sieht es in den anderen Bezirken aus?

Schlosser: Das größte Aufkommen von Obdachlosen ist in Kreuzberg. Dort wird auf entsprechende Mitteilungen des Amtsgerichts nur durch ein Anschreiben an die Klienten reagiert. Die vertreten den Standpunkt: wer sich dann nicht meldet, kann sich offenbar selbst versorgen. Das sieht dann so aus: sie schlüpfen bei Freunden unter und wenn sie dort ein halbes Jahr später auch rausfliegen, suchen sie Hilfe, aber die gerichtlichen Fristen sind versäumt. Dann wird ihnen ein Bettplatz in einer Pension nachgewiesen. Das geschieht heute durch die Leitstelle, das ist nicht mehr so teuer wie früher: angeblich jetzt für 22 DM pro Nacht, das entspricht aber immer noch der Durchschnittsmiete einer Wohnung. 1992 waren es in Kreuzberg im Durchschnitt 42 DM. Das neue Leitstellensystem führt zu einer zentralen überbezirklichen Bettenbelegung per EDV, dadurch stehen die Anbieter inzwischen in großer Preiskonkurrenz.

scheinschlag: Wieviel Zwangsräumungen finden in Berlin pro Jahr statt?

Schlosser: Laut Statistik der Senatsverwaltung für Soziales 1200. Aber ich glaube diesen Zahlen überhaupt nicht. Wenn man fragt, wie die statistisch in den Bezirken entstehen, dann kann man staunen: die sagen z.B., wir gucken, was wir letztes Jahr geschrieben haben, da packen wir 5% drauf. Die Senatsverwaltung für Soziales nimmt diese Zahlen für bare Münze. Es gibt überhaupt kein solides Verwaltungssystem, das sich um Planungszahlen kümmert. Ich habe einmal versucht, bei einem Gerichtsvollzieher in Schöneberg Informationen darüber zu bekommen, wieviel Wohnungen die denn räumen, da wurde mir gesagt, es gebe dazu keine systematischen Aktenauswertungen und Statistiken. Aber ein realistischer Anhaltspunkt sind die 1853 Räumungen, die von den Wohnungsbaugesellschaften auf Anfrage im Abgeordnetenhaus gemeldet wurden. In diesem Schreiben wird auch gesagt, daß man sich solcher Mieter in Zukunft schneller entledigen werde, weil man die Risiken der Mietzahlungsunfähigkeit nicht mehr länger zu tragen bereit sei. Obgleich, wie sie selber sagen, die Mietausfälle nicht einmal die Höhe der Risikorücklagen, die ja in der Miete enthalten sind, erreichen. 1853 Räumungen also allein bei den städtischen Wohnungsbaugesellschaften, wenn man die privaten Vermieter mit dazu nimmt, dann dürfte es mindestens das Doppelte sein!

scheinschlag: Was muß sich ändern in der Obdachlosenpolitik?

Schlosser: Es hat eine Initiative von sechs Bezirken gegeben, die wollten das Schöneberger Modell verallgemeinern. Da hat es eine Sitzung gegeben, aber es ist nichts daraus gefolgt, die bleiben bei ihrer Praxis. Der Leiter der ambulanten Wohnhilfe Schöneberg, Thomas Fröhlich, hat sich sehr in dieser Sache eingesetzt, aber die tun einfach nichts! Die Bezirke tun nichts! Die Leute in den Ämtern haben nur eines im Sinn: keine Mehrarbeit, keine Veränderung in der Aufgabenstruktur. Wenn man das wirklich ändern will, dann geht das nur politisch. Es hat bei der Senatsverwaltung für Soziales eine Arbeitsgruppe gegeben, von mir selbst initiiert. Wir waren eine richtig gute Gruppe, das Papier war sehr gut geworden (die eingangs genannte Studie vom März 1995, H.W.) Es war abgemacht, daß das Teil eines Obdachlosenplanes werden sollte, der endlich mal vom Abgeordnetenhaus beschlossen werden sollte. Dann hat der damalige Staatssekretär Tschoepe entschieden, das Papier nicht in die Senatsvorlage aufzunehmen. Wenn die Bezirke das Papier nicht als ministerielle Verfügung bekommen, verschwindet es sofort im Papierkorb. Die lesen nichts, was sie nicht lesen müssen! In den gemeinsamen Sitzungen mit Tschoepe biß man auf Granit, er hat die Sitzungen geleitet und das Papier abgewürgt. Ich habe ihm dann brieflich einige Fragen gestellt und nie eine Antwort erhalten.

scheinschlag: In dem Papier von 1995 wurde der Erwerb von Belegungsrechten, der Ankauf oder die Anmietung von Wohnungen befürwortet. Hat sich hier etwas getan?

Schlosser: Nein. Es hat sich etwas bei der Kapitalkostenhilfe getan. Durch Kapitalkostenübernahme beim Wohnungsbau durch den Sozialhilfeträger werden zeitlich befristete Belegungsrechte gesichert, die durch Sozialamtsklienten "abgewohnt" werden können. Das bezieht sich auf die Zinstilgungskosten, alle anderen Kosten bleiben gleich, daran verdienen noch die Banken und damit werden keine Wohnungsressourcen geschaffen.

scheinschlag: Sehen Sie in der Wohnungspolitik Weichenstellungen, die kontraproduktiv waren?

Schlosser: Kontraproduktiv war die Förderung des sozialen Wohnungsbaus: eine Sozialwohnung kostet durchschnittlich 419000 DM Zinslasten. Die Wohnung wird nicht aus dem Haushalt finanziert, sondern über den Kapitalmarkt, da fallen 30 Jahre Zinsen an. Allein die Zinsen im sozialen Wohnungsbau betragen pro Tag 1 Million DM ohne dafür einen Quadratmeter Wohnraum zu schaffen. Um die Schulden zu bezahlen, werden jetzt Wohnungen aus städtischem Besitz verhökert und die Zinsen müssen weiter bezahlt werden.

scheinschlag: Was ist wohnungspolitisch zu fordern?

Schlosser: Daß man Ressourcen beschafft, die die freien Unternehmen nicht herstellen, und zwar durch direkten Kauf mit Haushaltsmitteln, das ist die billigste Form. Es gibt jetzt nur noch den sogenannten 2. Förderweg, der abhängig ist von Privatdarlehen. Damit ist das die Versorgung von Leuten, die sich auf dem normalen Wohnungsmarkt sowieso schon gut versorgen können. Deswegen jetzt die Krise, daß bestimmte Gebäude eben leer stehen, weil Brandenburg mit Ressourcen aufwartet.

© scheinschlag 2000
Inhalt dieser Ausgabe | Home | Aktuelle Ausgabe | Archiv | Sitemap | E-Mail

  Ausgabe 08 - 1998