Ausgabe 08 - 1998berliner stadtzeitung
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Arbeitsplätze für Kreuzberg

Das Projekt "WochenKlausur" übt Kunst als konkrete Intervention bei konkreten Problemen

Warum sollte Kunst vor dem "wirklichen Leben" haltmachen? Warum sollte sie - neben Wirtschaft, Politik, Medien - keine mitspielende, aktiv eingreifende Kraft in gesellschaftlichen Strukturen sein? Solchen Überlegungen verdankt Wien inzwischen den "Louisen-Bus" - ein Kleinbus zur medizinischen Versorgung Obdachloser -, und die italienische Gemeinde Civitella d´Agliano die Einrichtung eines Kommunikationszentrums für Ältere und die Sanierung des dazugehörigen Bocciaplatzes.

Die Urheber solcher - na ja: Wohltaten? sind weder Timurtrupps noch Heinzelmännchen, sondern sieben Menschen, die sich zur Gruppe "WochenKlausur" zusammengeschlossen haben. Das Unternehmen trägt den Untertitel "Kunst und konkrete Intervention", was ziemlich treffend das Konzept beschreibt. Man könnte auch sagen: Kommen, sehen, fragen, tun. Die Gruppe handelt in zeitlich begrenzten "Intensiveinsätzen" zur "Verbesserung der Lebensbedingungen Benachteiligter". An einem konkreten Ort wird ein spezifisches, konkretes Problem recherchiert und herausgefiltert, dann öffentlich diskutiert und schließlich mindestens eine Maßnahme konkret und möglichst dauerhaft verwirklicht.

Diese Intensiveinsätze erstrecken sich meist über mehrere Wochen und werden "Interventionen" genannt. Die erste 1993 in Wien, die "Intervention zur Lage der Obdachlosen", dauerte elf Wochen. Über Sponsorengelder wurde ein Kleinbus angekauft und umgebaut. Die "WochenKlausur" leistete überdies Überzeugungs- und Medienarbeit, in deren Folge die Stadt Wien die Arztkosten und die Caritas die Betriebskosten übernahm. Seither werden rund 600 obdachlose Patienten monatlich durch den Bus betreut. In Zürich schaffte man es, situationsentkrampfende Gespräche zur Drogenproblematik zu führen und eine Notschlaf-, Aufenthalts- und Beratungsstelle für drogenabhängige Frauen aufzubauen, die seitdem von einem eigens dafür gegründeten Verein geführt wird und täglich ausgelastet ist. In anderen Städten wurde zu Schule, Ortsentwicklung, Abschiebehaft oder Ausländerpolitik interveniert.

Die "WochenKlausur" arbeitet seit 1993 auf Einladung renommierter Kunstinstitutionen wie der Wiener Secession, der Shedhalle Zürich oder dem Salzburger Kunstverein. Zu einer neuen Intervention wurde die "Wochenklausur" nun von der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst (NGBK) mit Sitz in Kreuzberg und vom dortigen Kunstamt eingeladen. Der Innenstadtbezirk hat die höchste Arbeitslosenquote in Berlin zu verzeichnen: 30%. Deshalb lautet hier das Thema "Arbeit - Arbeitslosigkeit".

Die Künstler machen sich dabei ihre unvoreingenommene, unabhängige Position als Außenstehende zunutze. Um die Situation genauer kennenzulernen, führten sie seit Beginn des Berlin-Projekts Anfang März über fünfzig Gespräche mit Vertretern der unterschiedlichsten Interessengruppen: mit Arbeitslosen, Medien, Experten, öffentlicher Verwaltung und politischen Entscheidungsträgern. Sympathisch ist, daß die "WochenKlausur" weitab vom Superman-Image keinen Hehl auch aus der eigenen zeitweiligen Verwirrung macht: wie viele Aspekte das Thema "Arbeit in Kreuzberg" berührt, zeigte schon die erste öffentliche Diskussionsrunde mit Medienvertretern.

Deutlich, so die WochenKlausur, sei bei den Recherchen die mangelnde Verbindung zwischen innovativen theoretischen Ansätzen und der praktischen, realen Situation der Betroffenen geworden. Die Diskrepanz zwischen immer weniger privatwirtschaftlich finanzierter Arbeit und immer mehr gesellschaftlich notwendigen Aufgaben und Arbeiten präge den Kreuzberger Alltag.

In den Räumlichkeiten im Künstlerhaus Bethanien, die der Wochenklausur für das Projekt zur Verfügung gestellt wurden, finden für die Dauer des Projekts jeweils montags öffentliche Diskussionen statt. Der eigentliche Kern der Intervention für Kreuzberg sind jedoch die sogenannten "Think Tanks": in diesen Runden sollen kompetente Personen aus unterschiedlichen Berufen und mit unterschiedlichen Erfahrungen zeitlich begrenzt zusammenarbeiten; "Pioniere", die sich theoretisch oder praktisch mit dem Thema Arbeit beschäftigen. Ziel jeder Think-Tank-Runde soll die Schaffung jeweils mindestens eines neuen bezahlten Arbeitsplatzes sein. Der soll Bezug zu spezifischen Kreuzberger Problemfeldern haben, vorhandene Potentiale nutzen und längerfristig nicht aus öffentlicher Hand finanziert werden. Die Arbeit der Think Tanks wird eine in kürzester Zeit einzurichtende Koordinationsstelle betreuen, die auch für die Weiterführung des Projekts garantieren soll, indem sie neue Personen zur Mitarbeit in den Think Tanks gewinnt.

Die Kreuzberg-Intervention ist bis zum 10. Mai befristet - an diesem Tag wird im Künstlerhaus Bethanien ab 19 Uhr die Abschlußpräsentation stattfinden. Spannend ist, daß die WochenKlausur bisher genausowenig über das Ergebnis weiß wie die anderen Beteiligten oder die "Kunstrezipienten".

us

Öffentliche Diskussionen im Künstlerhaus Bethanien, Mariannenplatz 2, um 19 Uhr: am 27. April über die Selbstorganisation von Erwerbslosen, am
4. Mai über die Zukunft der Arbeit. Kontakt: Tel. 25884150 oder 61403153, Fax 25884153, e-mail: klausur@to.or.at

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