Ausgabe 05 - 1998berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Solider Bestand

Die Gitter vor dem Haupteingang des Arbeitsamtes in der Kochstraße blieben am 5. März geschlossen. Journalisten, die zur Pressekonferenz wollten, mußten durch den Nebeneingang, Männer mit unbeweglichen Mienen kontrollierten ihre Presseausweise. Es handelte sich aber keineswegs um geheime Verschlußsachen, sondern um eine eher nüchterne Routineangelegenheit: Allmonatlich werden auf der Pressekonferenz im Landesarbeitsamt Berlin-Brandenburg die neuesten Arbeitslosenzahlen referiert.

Die Sicherheitsvorkehrungen werden getroffen, seitdem zu diesem Anlaß regelmäßige Arbeitslosenaktionen angekündigt sind. Aber was heißt schon angekündigt - nachdem im Januar auch aufgrund der Bewegung in Frankreich das Thema "Arbeitslosigkeit" noch der Aufmacher der Medien war, wurde nun in den meisten (auch in den "alternativen") Zeitungen nicht einmal mehr eine Notiz zum Demonstrationsaufruf oder Treffpunkt gebracht. Blieben als Informationsquelle vor allem die Flugblätter, die die Arbeitsloseninitiativen wochenlang vor den Arbeitsämtern verteilt hatten. So war gegen halb zehn nur ein kleines Häuflein vor dem Arbeitsamt versammelt - zu klein, um eine Stürmung der Pressekonferenz zu befürchten. Die Polizisten in den Wannen, die sich ringsum das Arbeitsamt verteilt hatten, waren eindeutig in der Überzahl. Und außerdem regnete es.

Arbeitsamtschef Claus Klausnitzer erschien gegen zehn mit geboten ernster Miene und müder Stimme zur Pressekonferenz. Da war durch die geöffneten Fenster schon ein leichtes Pfeifkonzert zu vernehmen. Klausnitzers erste Amtshandlung war die Bitte an die Journalisten, doch nun die Fenster zu schließen. Neuigkeiten konnte er nicht bieten, aber das hatte wohl auch niemand von ihm erwartet. Immerhin habe sich "im Arbeitsamt Berlin-Brandenburg die Zahl der Arbeitslosen nach dem deutlichen Anstieg zu Jahresbeginn nur noch leicht erhöht". Was nicht wundert, denn die meisten Kündigungen erfolgen zum Quartals- oder Jahresende. In Berlin sind 290 000 Arbeitslose beim Landesarbeitsamt gemeldet - eine Quote von 17%. In Potsdam und Eberswalde sind es jeweils über 24%. Klausnitzer sprach von 500 000 bis 700 000 Arbeitsplätzen, die notwendig seien, und wiederholte, daß "Arbeitsmarktpolitik keine Arbeitsplätze ersetzt". Außerdem ging es um illegale Arbeiter, die aufgespürt werden sollten, um "Strukturanpassungsmaßnahmen" (dies sei erwähnt, weil das Wort so schön klingt), und darum, daß jeder, der mehr als sieben Tage lang arbeitet, als "längerfristig beschäftigt" gilt.

Durch die geschlossenen Fenster waren die ersten Reden zu hören, ab und an Beifall, immer mehr Pfeifen. Viel mehr hatte Klausnitzer sowieso nicht zu sagen, die Zahlen stehen ohnehin im Pressematerial. Das immerhin ist liebevoll aufgearbeitet, für die Buchstabenmüden gibt es Säulendiagramme, die das Ganze anschaulicher machen sollen. Über einem Kurvendiagramm mit ziemlich steil ansteigender Kurve stand: "Bestand an Arbeitslosen". Das ist positives Denken, denn Bestand ist etwas, was bekanntlich auf der Habenseite zu verzeichnen ist und zudem sehr solide klingt: Bestand. Der Bestand an Arbeitslosen ließe sich umgekehrt nur im "Defizit an bezahlten Stellen" ausdrücken, aber das klingt depressiv und unsolide.

Weil Klausnitzer offenbar nicht mehr viel zu erzählen hatte, was nicht sowieso in den Unterlagen gestanden hätte, gingen wir wieder hinunter. Auf der Straße stand ein Teil des Bestandes. Komischerweise sah der Bestand weniger bekümmert drein als Klausnitzer - eher wie ein Bestand, der die Schnauze voll hat, wenn auch vorerst nur ein bißchen. Auf einem Schild stand: Wir sind das Volk - eine inzwischen fast rührende Reminiszenz. Auf einem anderen stand die Folgeerkenntnis "Ich bin 1 Volk". Wie sich das mit dem Volk weiterentwickelt, kann man spätestens am 7. April weiterverfolgen - da werden die Arbeitslosenzahlen von März bekanntgegeben.

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