Ausgabe 05 - 1998berliner stadtzeitung
scheinschlag

Diese Ausgabe

Inhaltsverzeichnis


Zur Homepage

Berlin 1898

12. bis 25. März

Mehr als 3000 Polen finden sich zu einer Huldigungsfeier anläßlich des Papstjubiläums am 12. März im großen Saal des Buggenhagenschen Etablissements ein. In den Festreden wird Leo XIII. als Beschützer und Ratgeber der polnischen Nation gefeiert. Angeregt werden die Errichtung eines polnischen Jugendheims und die Schaffung eines polnischen Arbeitsnachweises in Berlin.

Die Stufenbahn der letzten Berliner Gewerbeausstellung will Paris für seine Welt-Ausstellung im Jahre 1900 übernehmen. Jedoch soll die Bahn dort nicht nur ein interessantes Experiment sein, wie in Treptow, sondern eine praktische Verbindung der verschiedenen Ausstellungsteile.

Ein Rad wird seinem Fahrer von der Straße gestohlen. Bei der Polizei jedoch erhält er statt der erwarteten Hilfe eine Ordnungsstrafe über 3 Mark. Die Polizei fasst das Fahrrad als "Fuhrwerk" auf, somit ist das unbeaufsichtigte Stehenlassen ein Verstoß nach der Straßenpolizeiordnung.

"Lucca", ein in der ganzen Luisenstadt bekanntes Berliner Original, stirbt plötzlich an einer Herzlähmung. Sie war Kuchenhändlerin und wanderte mit ihrem Henkelkorb jeden Abend durch die Lokale der Luisenstadt. Der Name "Lucca" wurde ihr verliehen, weil sie in Lokalen, in denen Klavierspieler arbeiteten, mit schöner Sopranstimme und viel Gefühl Lieder aus längst vergangenen Zeiten zu singen pflegte. Den Korb stellte sie in die Ecke und vergaß ihren Handel völlig, besonders wenn die Gäste sie mit Beifall überschütteten. Noch in der Nacht vor ihrem Tod gab sie ihre Lieblingslieder zum Besten. An der Beerdigung auf dem Emmauskirchhof nehmen viele angesehene Stammgäste von Lokalen der Luisenstadt teil.

Die Lohmühlenstraße ist eine der merkwürdigsten. Ein Teil gehört zu Berlin, ein Teil zu Treptow und ein Teil zu Rixdorf. Postalisch ist sie ganz Berlin einverleibt. Es wird noch merkwürdiger, weil jede der drei Gemeinden auf ihrem Gebiet die Straße unabhängig voneinander numeriert hat. Die Bewohner wollen bei ihren Gemeindevorständen auf eine einheitliche Numerierung dringen.

Die ersten Kiebitzeier treffen am 15. März in Berlin ein. Der Wert dieser Delikatesse zeigt sich in dem Preis von 7 Mark pro Stück.

Mit seinem Fuhrwerk ist der Handelsmann Vollmer unterwegs. An der Schützen- und Neuen Königstraße wird sein Pferd scheu und jagt in die Neue Königstraße gegen einen Pferdebahnwagen der Linie Molkenmarkt-Weißensee. Bei dem Zusammenprall wird Vollmer mit solcher Gewalt vom Bock gegen die Straßenbahn geschleudert, dass er mit dem Kopf in eine Scheibe hineinstürzt. Dabei wird ihm das linke Auge vom Glas durchschnitten. Er erhält auf der Unfallstation X erste Hilfe.

Das Hotel Continental wird mit dem 16. März an Herrn Adlon, Inhaber der bekannten Weinhandlung, verpachtet. Es bleibt aber im Besitz der Berliner Hotelgesellschaft, der auch der Kaiserhof und ein Heringsdorfer Hotel gehört.

2 Zentner Leichenteile werden in dem neuen städtischen Verbrennungsofen in der Diestelmeyerstraße zur Probe verbrannt. In Gegenwart des Kuratoriums für das Bestattungswesen und des Erbauers des Ofens wird die aus dem Krankenhaus in Moabit gesandte Kiste eingeäschert. Nach zwei Stunden wird die Verbrennung mit einer zweiten Kiste mit gleichem Inhalt wiederholt. Die Kommission wird nicht von Hitze oder Geruch belästigt und der Schornstein zeigt keinen Rauch, so dass wohl kein Anwohner ahnt, dass der erste Verbrennungsofen von Berlin in Betrieb gesetzt ist.

Das Tsung-li-Yamen der Abteilung Berlin der Deutschen Kolonial-Gesellschaft veranstaltet am 19. März 1898 einen Ausflug nach Kiaotschau mit Gesang und Tanz zur Gründung von Abteilungen und Errichtung eines Gauverbandes Schantung. Die glückliche Ankunft im Reich des Himmels wird gefeiert durch ein Festspiel, durch chinesische Gesangsvereine, durch Schlangenbändiger, ein Plastorama und andere neu entdeckte chinesische Kunstgenüsse. Der Ort der Ausreise ist das Concerthaus, Leipziger Straße 48, 8 Uhr abends.

Einen 1,90 Meter großen Mann kann man manchmal Unter den Linden spazieren gehen sehen, an kalten Tagen mit seiner mächtigen Pelzmütze auf dem Kopf, das Gesicht in einem ungepflegten Bart verborgen. Die Hosen stecken in hohen Röhrenstiefeln mit fingerdicken Sohlen, die kleinen Äuglein schweifen unsicher über die vorübergehenden Gruppen. Das ist ein Russe, der eben in Berlin angekommen ist. Doch bald weicht die Pelzmütze einem glänzendem Zylinder, der Pelz einem eleganten Überzieher und die Röhrenstiefel zierlichen Lackschuhen. Die Angehörigen der russischen Kolonie eignen sich schnell die deutsche Sprache und alle Berliner Sitten, Bräuche und Manieren an. Merkwürdig, was ein jeder in Moskau über Berlin weiß: dass Berlin von Gott verloren, der trostloseste Winkel auf Erden sei. Aber schon nach zwei Tagen in Berlin sind die meisten Russen angenehm enttäuscht und allmählich beginnt man, in Russland das Lob Berlins zu preisen.

Mit der Eisenbahn zum Nordpol will der amerikanische Ingenieur Mulkey reisen. Dafür lässt er derzeit eine Maschine bauen, die sich ohne Gleise auf dem Eis fortbewegen kann. Die Räder der Maschine sind mit Zähnen versehen, ähnlich unseren Gebirgsbahnen. Am Vorderteil des Dampfrosses befindet sich ein großer Eissporn. "Und so wird meine Maschine" erklärt der Erfinder, "wie ein Kriegsschiff alle Hindernisse glatt nehmen." Die Lokomotive soll durch Gas in Bewegung gesetzt werden und ungefähr sechs Wagen ziehen. Die Versuche sollen in Canada, zwischen Victoria und Dawson City, gemacht werden und Mulkey denkt, schon Ende des Jahres zum Nordpol aufbrechen zu können. Der "Berliner Lokal-Anzeiger" wünscht: "Glückliche Reise!"

Falko Hennig

© scheinschlag 2000
Inhalt dieser Ausgabe | Home | Aktuelle Ausgabe | Archiv | Sitemap | E-Mail

  Ausgabe 05 - 1998