Ausgabe 05 - 1998berliner stadtzeitung
scheinschlag

Diese Ausgabe

Inhaltsverzeichnis


Zur Homepage

Schnauze voll!

Offener Brief an die Kolleginnen und Kollegen in der ÖTV Berlin vom Aktionsbündnis Arbeitslosenprotest in Berlin. Für einen energischen Streik der Fahrkartenkontrolleure!

Liebe Kolleginnen und Kollegen in der ÖTV,

Ihr steht zur Zeit in harten Tarifauseinandersetzungen mit den Arbeitgebern der öffentlichen Hand. Euch wird dabei ständig vorgeworfen, euch unsolidarisch mit uns Erwerbslosen zu verhalten - Eure Forderungen nach einer Anhebung Eurer Löhne gefährde Arbeitsplätze und verhindere, daß wir eingestellt werden können.

Wir wissen, daß das nicht stimmt. Wir wissen, daß Ihr die Finanzkrise der öffentlichen Haushalte nicht zu verantworten habt. Wenn bei einem Wirtschaftswachstum von real 3%, wie es in diesem Jahr erwartet wird, die öffentlichen Einnahmen sinken, hat das andere Gründe als Eure legitimen Forderungen nach einer Beteiligung an diesem Wachstum. In Berlin können wir überall sehen, wo die Gelder verschwinden: all die sogenannten Arbeitsplätze, die in den leerstehenden Bürohäusern von zumeist unter Tarif bezahlten oder scheinselbständigen Arbeitern errichtet werden, sind ja mit großzügigen Sonderabschreibungen gefördert - zum Teil sogar mehrfach abgeschrieben. Das Geld, das die Reichen in diesem Land auf diese Art sparen, sollt Ihr jetzt berappen. Ihr habt vollkommen Recht, wenn Ihr sagt: So nicht!

Ihr fallt damit uns Arbeitslosen keinesfalls in den Rücken, im Gegenteil, ihr verhaltet Euch solidarisch, wenn Ihr jetzt die Tarifauseinandersetzungen energisch führt. Ihr kämpft gegen den Abbau des Sozialstaates, auf den wir als Erwerbslose bitter angewiesen sind. Der Eisenbahnerstreik in Frankreich Ende1995 hat gezeigt, daß solch ein Kampf wichtig ist. Er war in Frankreich der Ausgangspunkt für eine soziale Bewegung gegen den Neoliberalismus: Ende 1996 streikten die Fernfahrer, seit Ende 1997 machen die Arbeitslosen mobil. Wir wollen, daß diese soziale Bewegung jetzt auch auf Deutschland überschwappt. An der Schwelle zum 21. Jahrhundert stehen wir in Europa vor der Entscheidung, ob wir unsere Gesellschaft zur Unternehmensdiktatur entwickeln wollen oder ob wir sozialstaatliche Grundwerte in einer neuen Epoche neu beleben. Es gibt Alternativen zum neoliberalen Unternehmensstaat, es liegt an uns, diese Alternativen auch zu erkämpfen.

Eine konkrete Bitte haben wir an Euch. Ihr wißt, daß die Fahrpreiserhöhung ab ersten März viele erwerbslose Berliner zum Daheimbleiben verurteilt. Wer von 900 DM Arbeitslosenhilfe 450 DM für die Miete hinlegen muß, für den sind schon die 7,80 DM Fahrgeld, die er einmal im Vierteljahr für den Pflichtbesuch beim Arbeitsamt ausgeben muß, eine große Belastung. Faktisch ist für viele von uns das Grundrecht auf Freizügigkeit bereits außer Kraft gesetzt. Der Berliner Verkehrssenator Jürgen Klemann hat also durchaus recht, wenn er die dramatisch gesunkene Fahrgastzahl in den öffentlichen Verkehrsmitteln auf die hohe Arbeitslosigkeit zurückführt.

Unser Aktionsbündnis und mit uns auch die Erwerbsloseninitiativen in den Gewerkschaften werden durch die hohen Fahrpreise konkret in unserer Arbeit behindert, da viele sich das Fahrgeld zu unseren Treffen nicht leisten können.

Wenn Ihr also überlegt, wie ein Streik im öffentlichen Dienst konkret gestaltet werden soll, dann denkt an uns. Ein hartnäckiger Streik der Fahrkartenkontrolleure hätten für die BVG und die S-Bahn-Gesellschaft fast den selben Effekt wie ein Streik der Fahrer oder des Bahnsteigpersonals. In der Bevölkerung und vor allem bei uns Erwerbslosen würde solch ein Streik aber große Freude auslösen. Er wäre ein solidarisches Signal, das von der Öffentlichkeit sicherlich richtig verstanden würde.

Mit solidarischen Grüßen

Aktionsbündnis Arbeitslosenprotest in Berlin, Versammlung vom 2. März 1998 im Haus der Demokratie z.Z.
c/o Antidiskriminierungsbüro, Haus der Demokratie, Friedrichstraße 165, 10117 Berlin

© scheinschlag 2000
Inhalt dieser Ausgabe | Home | Aktuelle Ausgabe | Archiv | Sitemap | E-Mail

  Ausgabe 05 - 1998