Ausgabe 05 - 1998berliner stadtzeitung
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Injektion tief ins grau gebleichte Herz

Die Kastanienallee hätte an jenem Tag ebensogut in New York liegen können, alles mögliche lief auf ihr herum - Studenten, ehemalige Besetzer und graue Ureinwohner; die Türken draußen vor ihren Dönerschleudern und OriginalPizzaRestaurants, viele von ihnen, liebevoll. Und Fenster stehen offen, auch viele, die Häuserzeilen schnappten Luft nach unermeßlicher Zeit ohne Wetter, Horizont, Himmel - Waffenstillstand: ein warmer Tag im Februar, man riecht die Küste, sie kann nicht weit sein, der einundzwanzigste, 1998, ein Datum, das man sich ruhig merken kann.Die Sonne hat schon die Straßenbahnschienen geschmolzen, die - jetzt sieht man´s - in Wirklichkeit aus Gold sind, flüssiges Gold läuft hier die Straße rauf, direkt in´n Himmel, obwohl ja die Sonne gar nicht hätte erwärmen dürfen, ob mit oder ohne Wolkenhaube; aber wahrscheinlich strahlt sie gerade darüber, ihre Impertinenz macht ihr Spaß.

Berlin ist nicht wirklich eine Metropole - viele halten es dafür, um sich was Besonderem zugehörig zu fühlen, aber außer groß ist es nichts, nur mitunter zu viel. Hin und wieder aber begegnet man einem Platz oder Gebäude, einer Szene, und denkt: Metropole! oder: würde in eine passen - gefühlsmäßig so in die Richtung. In jedem Fall aber fühlt man sogleich: New York, Paris, Wow! aber nie: Oh Mann, Berlin! Das denkt man dann erstaunt.

Und jetzt war also Berlinale vorbei oder fast, und zwischen all diesen plötzlich Andeutung gewordenen, sonst so leeren Wortblasen wie kosmopolitisch, multikulturell und weiterem, sozialliberalen Wortmüll, läuft ein unglaublich elegantes, altes amerikanisches Paar die Straße herauf.. Sein weißer Mann-von-Welt-Schal umgibt ihn wie eine ganz private, perfekte kleine Wolke, nur zu seinem Vergnügen; die scharfe Silhouette der beiden, ihre Wortfetzen, wie sie da flanieren, auf einem Sonnenstrahl gleich, ein Bild wie tausend Filme, wenn die Sonne untergeht und Berlin Metropole ist, Injektion tief ins vom Grau gebleichte Herz, jetzt kurz wieder dunkelrot-rasend. Vergiß ja diesen Tag nicht, er ist Notopfer vom Himmel, und es wird noch richtig hart, bis Sommer wird. Und Berlin Metropole.

Oliver Bauer

Transitort Kastanienallee

Die Gewerbelandschaft der Kastanienallee verändert sich - immer weiter

1992. "Ich kann mir vorstellen, daß das hier mal ´ne tolle Gegend wird", erzählt eine Münchner Studentin. Zuerst sei sie ja schockiert gewesen - so trist und kaputt, das alles. Jetzt wohnt sie selbst hier. Aussicht - siehe oben. Gleichzeitig wird "La Boum" fertiggestellt, eine "Bar und Musikcafé" auf der Ecke Oderberger Straße/Kastanienallee. Der junge Kneipier droht überzeugt, daß hier nun andere Zeiten samt anderer Kundschaft anbrechen ("eine qualitativ bessere Schicht wird hier verkehren") und alles teurer wird (schließlich sind die Gründerzeitwohnungen zwar sanierungsbedürftig, aber doch verlockend). Er fühlt sich berufen, "den Leuten wieder gastronomisch ein Zuhause zu geben".

Ein Dokumentarfilm von 1992 über die Gewerbelandschaft der Kastanienallee. Von einer "zweiten Gründerzeit" war da die Rede. Die Drogerie in der Nr. 15, die es hier schon seit 100 Jahren gab, machte gerade dicht - ihr war die Miete von 187 auf 980 Mark erhöht worden, und die Kunden blieben auch weg. Eine andere Drogerie litt darunter, daß der Lebensmittelladen nebenan zugemacht hatte und auch die "Wäschetruhe" schloß. Ein funktionierender "Goldstrom" (so ein Gewerbetreibender über die frühere Kastanienallee) versiegte: die voneinander profitierende Laden-an-Laden-Gemeinschaft. Die neuen Realitäten: Festmieten nur für ein Jahr, Umsatzrückgänge auf 25%, dafür immens gestiegene Kosten, z.B. von 231 auf 1700 DM. Große Ketten lockten Kunden mit Einstiegsangeboten, deren Preise erst dann anzogen, wenn die kleinen Läden, die sich noch wacker um preisliche Alternativen bemühten (schließlich kannten sie die Lohnverhältnisse ihrer Kundschaft) verschwunden waren. Damit verschwanden auch vertraute Strukturen. "Ick kann Ihnen fast den Zuckerstand von die alten Leute sagen", meint ein Drogist. Und: "Wennick die Kundschaft hätte aus Zehlendorf, würdick zumachen". Der Farbenladen, auf der Ecke schräg gegenüber vom gerade entstehenden La Boum, bemüht sich um Kundenpflege. Dann hält die Kamera auf den just eröffneten Getränke-Hoffmann, der in die Kleinhandelsidylle einbricht. Eine alte Frau meint angesichts dreier neu eröffneter Computerläden: "Computer kann ich nicht essen." Hausbesetzer bemühen sich um kiezverbundene Formulierungen, die Schreinerei Warendorf - seit 1914 in der Kastanienallee, wo es fast in jedem Haus ein, zwei Betriebe und florierende Geschäfte gab - bemüht sich um Aufträge.

1998. Sechs Jahre später. Die alten Läden sind eingegangen wie zu DDR-Zeiten die alten Kastanien, die der Straße ihren Namen gegeben hatten und an die sich die ganz Alten noch erinnern können. Eine tolle Gegend ist das noch nicht geworden, aber man weiß ja auch nicht, was die Münchner Studentin sich darunter vorstellte. Ein seltsames Konglomerat bevölkert die Kastanienallee. Multikulti-Imbisse signalisieren eine neue Kommunikationstruktur. Als Szenekneipe versucht sich das "Schwarz-Sauer", hartnäckig wurstelt sich die Zoohandlung auf der Ecke zum Zionskirchplatz durch, schräg gegenüber ein Friseur mit dem launigen Namen "Locke und Glatze". Der Konsum ist seit geraumer Zeit fest verrammelt, seine Fenster mit Plakaten verklebt. Nur mühsam ist die einstige Nutzung noch zu identifizieren: wie ein verschwörerisches Zeichen verrät lediglich der blau-auf-weiße Streifen über der Tür, was sich hier befand. Dicht daneben versucht ein Künstlerbedarf, den alt-neuen Mythen vom Künstlerkiez zu entsprechen. In der Kastanienallee gibt es nun gebrauchte Möbel, Szeneklamotten oder Lebensmittel vom Türken im Spätverkauf, CD-Geschäfte und McPaper. Die Computerläden wirken schon lange eher hilflos und Getränke-Hoffmann ist kein Feindbild mehr, sondern der allabendliche Zufluchtsort der Trinker. Eine Skatspielerkneipe hat überlebt, und hinter der antik-historisierenden Erdgeschoßfassade mit grauem Relief-Giebel und dem Namen "Ornament" verbarg sich nicht, wie geargwöhnt, ein besonders exklusives Restaurant, sondern ein Bau- und Stuckbetrieb. Nicht mal der Prater konnte die Aufwertung mit völlig indiskutablen Eisbein- und Saure-Eier-Preisen vorantreiben.

Auf dem Prater-Gelände mümmelt zur Zeit friedlich eine Ziege. Die Fenster des Farbenladens, der mittlerweile auch dichtgemacht hat, sind immer dicker mit Plakaten tapeziert. Und das an einer der lukrativsten Stellen - Oderberger Ecke Kastanienallee. Wo früher an der Kreuzung auf jeder Ecke eine Kneipe war. "La Boum" hat offenbar die gastronomische Erziehung der Anwohnerschaft aufgegeben. Die zeitgenössischen In-Kneipen sind eher in der Oderberger: Das "Rosenbaum" zum Beispiel, dem regelmäßig die Scheiben eingeschmissen werden. Fragt sich nur, von wem. Trotzdem hat die Oderberger immer noch eine alte Stammkneipe, den Oderkahn. Das La Boum entpuppt sich als das, was es von Anfang an war: ein Auftakt mit Heckspoilerkultur. Zu prollig, um wirklich ein Heim für "die Szene" zu sein. Vielleicht zehn Gäste pro Abend, heißt es in der Anwohnerschaft, und vielleicht Geldwäsche, munkelt es.

Die befürchtete Aufwertung zur Nobelmeile hat nicht stattgefunden. Das Umfeld gibt es nicht her, neben anderen Gebieten wie dem Kollwitzplatz mitzuhalten. Die frühere gewachsene Tausch- und Schwatzgemeinschaft ist nur einer Momentangemeinschaft gewichen: Transitort Kastanienallee.

us

Die grüne Oase

Er steht am Anfang oder am Ende der Kastanienallee, je nachdem von wo man kommt. Er steht an der Grenze zwischen Mitte und Prenzlauer Berg. Er ist eine Institution seit über 150 Jahren schon, der Prater.

Damals stand er noch weit vor den Toren der Stadt und war ein Bierausschank, den vor allem Leute aus der Umgebung und aus der Stdt Berlin ins Umland fahrende Pferdefuhrwerker besuchten. Das Bier war billiger als in der Stadt. Später wuchs die Stadt, die Umgebung war nun von Mietskasernen geprägt. Die Bedürfnisse der neuen Stadtbevölkerung, Arbeiter, Handwerker und kleine Angestellte, wuchsen ebenfalls. Zum Bierausschank kamen Lustbarkeiten hinzu, wie Gaukler, Seiltänzer. Es wurde zum Tanz aufgespielt, Operetten aufgeführt. Familien konnten am Wochenende im Garten unter den damals noch jungen Kastanienbäumen Kaffee kochen. Der Prater war damals aber nur eines von vielen solcher Lokale. Immer auf der Suche nach Sensationen, ließen die Betreiber, die Gebrüder Skladanowski, 1897 ihre bewegten Bilder zeigen. Im Prater war immer etwas los, täglich Variete. Versammlungen und Tagungen wurden hier abgehalten, auch solche von KPD und ADAV. Später kam dann als feste Institution 1916 ein Kino hinzu. Nach dem zweiten Weltkrieg hatte die Volksbühne hier ihr Not-Domizil. Gorkijs "Nachtasyl" mit Ernst Busch in der Rolle des Satin wurde hier erstaufgefürhrt. Danach wurde der Prater als Uraufführungskino der DEFA genutzt.

In den sechziger Jahren gab es dann wieder das ursprüngliche Programm mit Tanz, Attraktionen, darunter auch Boxen, und Kinderfeste. Eine HO-Gaststätte öffnete. Ab 1967 wurde der Prater offiziell zum Kreiskulturhaus des Stadtbezirkes Prenzlauer Berg. Der Prater war wieder ein Treffpunkt, Begegnungsstätte. Eine grüne Oase in der Steinwüste. Ein Ort, an dem Freundschaften enstanden oder diese gepflegt werden konnten. Das Bier war billig (drei´nfuffzich Fennje en kleenet), der Kaffe und das Essen ebenso. Omas saßen nebenTrinkern, Intellektuelle neben Maurern unter den schattenspendenden großen Kastanien auf weißen Gartenstühlen an kleinen Holztischen zum Zusammenklappen. Wie in einem richtigen Ausflugslokal am Wasser. So gemischt wie das Publikum war auch das Programm: Betriebsfeiern, Zirkel, Discos, Kinderferienspiele oder Rentnertanz. Aber auch Veranstaltungen wie den monatlichen "Szenenwechsel", bei dem viele Veranstaltungen (Theater, Pantomime, Konzerte, Austellungen usw.) parallel an verschiedenen Orten des Hauses abliefen. Im Prater konnten Leute wie Stephan Krawczyk oder Manfred Butzmann spielen oder ausstellen, die sonst eher mißliebig waren. Dafür wurde gegen die Verantwortlichen schon mal ein Parteiverfahren eingeleitet, was diese am Weitermachen aber nicht gehindert hat. Es gab zwar Anweisungen, bestimmmte Leute nicht auftreten zu lassen oder wie bestimmte Veranstaltungen abzulaufen hatten, aber man wußte, wie die Kontrolleure z.B. bei Discos (Stichwort 60:40) zu bescheißen waren. Eben das Übliche. Im Prater lief alles, und man konnte alles machen. Ein Ort für alle und jeden. Also nicht nur eine grüne Oase.

Leute, die den Prater aus dieser Zeit kennen, bekommen immer noch leuchtende Augen beim Erzählen. Gestandene Erwachsene schwärmen vom Garten, den Bäumen und den Bierpreisen. Die Mischung war es, sowohl vom Angebot her als auch von den Besuchern. Nach der Wende gab es Schwierigkeiten vor allem mit den neuen sicherheitstechnischen Anforderungen. Für die Sanierung der teilweise über 80 Jahre alten Gebäude war kein Geld da. So schloß der Prater für einige Jahre. Der Garten verwilderte. Dann kam 1993 der Umbau und danach die Volksbühne als neue Betreiberin des Prater. Die heutigen Einrichtungen (Schmaltzwald, Bühne, Kneipe und im Sommer der Biergarten ) sind hinlänglich bekannt. Der Prater ist auch wieder ein Treffpunkt. Nur die Alten und die Trinker kommen nicht mehr. Das Publikum ist sehr viel jünger und schicker und bleibt unter sich. Das Bier kostet wie überall. Die Maurer gehen jetzt eher zu den Dönerbuden. Der Garten ist immer noch schön und bleibt auch der einzige gemütliche grüne Flecken in der Kastanienallee.

Kommt man diesertage auf den Praterhof, empfängt den Besucher ein intensiver Stallgeruch. Gleich rechts neben dem Eingang stehen vor ihrem Stall buntgescheckte Ziegen, die alles, was sich an ihnen vorbeibewegt, anmeckern. Sie gehören zum neuen Projekt von Christoph S.: Chance 2000. Auf dem Hof ist ein Zirkuszelt aufgebaut. In anderen Ecken des Gartens stehen Zirkuswagen. Ihre Bewohner stehen oder sitzen davor, als wären sie schon Jahre hier. Sie gehören zur Zirkusfamilie Sperlich, die an der Inszenierung beteiligt ist. Keine schicken Leute. Der Hof sieht lebendig aus. Im Zelt wird hörbar geprobt. Es geht um Wahlen, vielleicht auch Arbeitslose. Jeder soll mitmachen können. Hoffentlich bekommen das auch die Omas und die Baurbeiter mit.

Ingrid Beerbaum

Ein Blick aus dem Fenster und Einblick hinter die Fassade

Siebenundsiebzig Momente

Die Fassade schummert neuerdings popelgrün. Das ist historisch und denkmalbestimmt. Aber das sehe ich kaum, wenn ich aus dem Fenster schaue. Mit den Füßen auf der Wärme der Heizung reicht der Kopf gerade durch das Oberlicht des frischgestrichenen Doppelkastenfensters. Draußen surrt eine der modernen Straßenbahnen vorbei. Und bei geschlossenem Fenster ist das kaum noch zu hören. Das ist der kleine komfortable Luxus des Alltags. Nach jetzt auch schon wieder fast drei Jahren Wohnens auf und in der Baustelle. So langsam kommen wir dort an, wo wir uns eigentlich nie vorstellen konnten hinzukommen. Hinter mir im Berliner Zimmer stehn noch die Kisten von Arne und Katharina, frisch (wieder) eingezogen mit Baby an Bord in mein vorheriges, etwas größeres Zimmer. Fünfmal bin ich jetzt umgezogen hier im Haus in den fünf Jahren seit der Besetzung am 20. Juni 92. Vorher, als wir noch nur künstlerisch politische Aktivisten waren, habe ich mir manchmal die Frage gestellt, was ich wohl machen würde, wenn es wirklich einmal gelänge, ein Haus zu besetzen, ohne gleich am selben Tag wieder geräumt zu werden. Klar, hab ich mir gesagt, du wirst das ausprobieren, das Leben in der großen Gruppe. Aber nur, da war ich mir sicher, wenn ich mein eigenes Zimmer habe, meinen Rückzusgraum. Ein halbes Jahr nach der Besetzung schlief ich immer noch in der Schlafsacklandschaft im Gemeinschaftsraum. Erst danach setzte das persönliche Bedürfnis genug Energie frei, das eigene Zimmer zu schaffen. Einen Ofen zu setzen. Die Fenster zu verglasen. Fünf Jahre später esse ich noch immer in der Gemeinschaftsküche, dusche ich immer noch im Gemeinschaftsbad. Trotz aller Diskrepanzen, die 25 Menschen an einen Tisch bringen können, hat sich dieses Ideal noch nicht verloren. Wir haben die Ruine in ein bewohnbares Etwas verwandelt. Wir haben buntkostümiert die Demonstrationskultur mitgefärbt. Wir haben auf er Straße und an Ruinen Tischen um die Legalisierung gekämpft. Wir waren die Hausbesetzer, die es schafften, mit der Polizei (lang ist es her) den bösen Eigentümer zu vertreiben, der unsere Türen mit Kettensägen zerlegte. Wir hatten das Glück, eine Stiftung zu finden, die das Haus als Anlagevermögen kaufte, um es uns und unserer Selbstverwaltung zu verpachten. Wir haben in Selbsthilfe und mit den freundlichen Millionen des Senats (lang ist es her, daß es adäquate Förderprogramme gab) den Hausschwamm aus dem Gebälk verbannt und vom Baucontainer herab die revolutionäre 1. Mai-Demo auf der Straße abgenommen. Wir jagen wöchentlich stundenlang auf dem Plenum dem Konsens hinterher, um alles dreimal zu bereden.

Das Wir ist selbst dann gültig, wenn das Ich mal nicht dabei war. Sondern nur die anderen. Das Wir verschwindet erst, wenn die anderen nicht dabei sind. Und Du allein vor dem Spülberg stehst, in den leeren Kühlschrank spähst, sich der Abfall schon aus dem Müllsack quält und keiner von den anderen ein Auge dafür hat. Außer Du selbst. Jetzt gerade. Auch wenn Du gestern noch selber deinen Scheiß auf dem Küchentisch hast stehenlassen. Wer sind wir denn? 25 Menschen, die sich die Miete nicht pro Quadratmeter, sondern pro Kopf teilen. Die dafür einfach mal die Zimmer tauschen können, wenn es gewünscht wird. Bei denen es reicht, sich einen Tag pro Woche in der Küche zu engagieren (oder weniger) und dafür (fast) jeden Abend ein warmes Essen auf dem Tisch anzutreffen. Wo eigentlich immer wer sitzt, aus dem Haus, ein Freund von jemand aus dem Haus, die Freundin eines Freundes von jemand aus dem Haus oder die spanische Bekannte von der Dingsda aus Dortmund, die vor zwei Jahren im Sommer mal hier war und gerade mit ihrem holländischen Freund hier im Dachboden übernachtet. 25 Menschen, die sich zur Zeit darüber streiten, mit welchen Projekten denn das für Kultur reservierte Hinterhaus gefüllt werden soll, wenn denn dann die Sanierung endlich und hoffentlich im Herbst oder Winter abgeschlossen sein wird. 25 Menschen, denen das Haus, was sie besitzen, nicht gehört. 25 Menschen, von denen kaum einer weiß, ob wir eigentlich wirklich gerade 25 sind.

Gegenüber leuchtet die Werbetafel des frisch umgezogenen Künstlermagazins. Laut Küchentischgerüchten an einen für sowas historischen Ort. Und daneben, etwa schwächer, der Falafel-King. Kaum wiederzuerkennen die Straße, wenn man sich an diesen Ort vor fümf, fast sechs Jahren zurückerinnert. Als wir dort unten vor dem Haus auf ausgeleierten Sofas auf der Straße saßen. Umter den großen roten Kreuz an der Fassade, mit dem wir die Erste Hilfe für die runtergewirtschaftete Ruine der K77 signalisierten.

Bis letztes Jahr waren gegenüber, da, wo es jetzt die farbenfrohen Pigmente zu kaufen gibt, noch Würste im Angebot. Und auch hier, unter mir im Laden, war mal eine Fleischerei. Doch das ist noch viel länger her. Der letzte Metzger verduftete schon zu Zeiten des Mauerbaus in den Goldenen Westen. Einmal in jenem längst mystifizierten Sommer 92 kam er mit Nachwuchs im Mercedes vorgefahren, um sich von seiner alten Heimstatt und deren neuen BewohnerInnen irritieren zu lassen. Nur einer seiner letzten Lehrlinge blieb die ganze Zeit im Kiez und dealt heute mit toten Tieren um die Ecke in der Oderberger. Statt Frischfleisch werden demnächst in unserem Hause laufende Bilder geboten. Dort, wo wir in all den Jahren seit der Besetzung und demnächst hoffentlich wieder die sonntägliche Volksküche auf die Teller gebracht haben. (Noch so eine Art Imbiß in der Straße? - Ach was, schließlich waren wir die ersten, und sowieso immer ganz anders als alle anderen). Die Leute vom "Stattkino e.V." wollen hier in Kürze ihr Lichtblick-Kino, die Heimstatt des politisch korrekten Films wieder eröffnen. Da läuft dann sicher auch "K77 - Ein Heimatfilm". Ich denke, wir sehen uns. Demnächst in diesem Kino.

Grimo Wawavox

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