Ausgabe 04 - 1998berliner stadtzeitung
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Der Kandidat für alle

1998. Wahljahr. Will die PDS wieder in den Bundestag einziehen, muß sie mindestens drei Direktmandate erringen, da die Fünfprozenthürde für sie auf gesamtdeutscher Ebene kaum zu schaffen ist. Reelle Chancen auf die Direktmandate bestehen für die PDS nur in den fünf Ostberliner Wahlkreisen. 1994 wurden hier vier Sitze erreicht, im Wahlkreis Mitte/Prenzlauer Berg konnte Stefan Heym für die PDS mehr Erststimmen auf sich vereinigen als der SPD-Vorzeigeostler Wolfgang Thierse. Wen die PDS in diesem prestigeträchtigen Wahlkreis dieses Jahr gegen Thierse antreten läßt, ist noch nicht raus. Die Gerüchteküche brodelt. Es werden verschiedenste Namen gehandelt, von Angela Marquardt bis Daniela Dahn, von Kati Witt bis Thomas Ebermann. Auch die anderen Parteien schicken starke Kandidaten ins Rennen: Marianne Birthler (Bündnisgrüne) und Günther Nooke (CDU).

Angesichts dieser Bürgerrechtlerballung liegt es nur nahe, daß die PDS einen Kandidaten ohne bürgerbewegte Vergangenheit aufstellt. Zwar wolle man die "Schriftsteller-Nummer" nicht wiederholen, dennoch sucht man nach einer ähnlich integren Persönlichkeit, die wie Stefan Heym alte Genossen und junge Linke unter einen Hut bringen kann.

Durch eine Indiskretion im Karl-Liebknecht-Haus gelangte der Name des Kandidaten in die Redaktionsstuben des scheinschlags. Die Geheimniskrämerei hat ein Ende: Es ist der Sandmann. Wie kein zweiter symbolisiert der Sandmann ostdeutsches Selbstbewußtsein. Er machte aus seiner Nähe zum SED-Staat nie einen Hehl und wurde deshalb in den ersten Jahren nach der Wende immer wieder heftig attackiert. Er trotzte jedoch westlichen Abwicklungsversuchen und erkämpfte sich dadurch jenseits aller Parteigrenzen einen ungeheuren Rückhalt in der ostdeutschen Bevölkerung. Seither erfreut sich der Ur-Berliner auch im Westen eines hohen Bekanntheitsgrades.

Schon sein gewinnendes Äußeres macht ihn zur idealen Integrationsfigur, die einerseits die ältere Stammwählerschaft nicht verschreckt und es andererseits schafft, junge, linksalternative Wählerschichten zu erschließen. Der modische HipHop-Grunge-Bart dürfte potentielle Wähler aus dem studentischen Milieu ansprechen, während er beim älteren Publikum eher Assoziationen zu Lenin und Ulbricht weckt, so daß sogar die Kommunistische Plattform mit eingebunden wird. Sandmanns proletarische Joppe erinnert an die besten Zeiten der Arbeiterbewegung - ehrlich, glaubwürdig und bodenständig in der Tradition eines Ernst Thälmann. Das extravagante Outfit mit wehendem Umhang und spitzem Hut appelliert hingegen an die Künstler-Avantgarde im Prenzlauer Berg und in der Spandauer Vorstadt. Damit bringt der Sandmann fertig, was selbst der DDR nicht gelang: ein Brückenschlag zwischen der Arbeiterklasse und der schaffenden Intelligenz, die Einheit der Arbeiter der Hand und der Arbeiter des Kopfes.

Der frischgebackene Kandidat ist jung, fernseherfahren und politisch unverbraucht, seine Gesichtszüge strahlen freundlichen Optimismus aus. Auf die Frage nach seinen Konkurrenten antwortete Sandmann zuversichtlich:

"Die steck ich doch noch alle in den Sack."

js

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  Ausgabe 04 - 1998