Ausgabe 04 - 1998berliner stadtzeitung
scheinschlag

Diese Ausgabe

Inhaltsverzeichnis


Zur Homepage

Beim Inder in der wo?

Verabredet waren wir "beim Inder in der O-Straße", und ich wartete natürlich beim falschen. Bei dem, den ich von früher kannte. Dem mit den dunkelbraunen, verranzten Tischen mit den bunten Öllämpchen drauf und den gehäkelten Lampenschirmen an der Zimmerdecke. Dem mit den Tausendfüßlergöttern an der Wand. Wo man das Essen noch im Multinapf aus Edelstahl serviert bekam. Seltsamerweise war ich heute abend der einzige Gast. Ich saß und wartete und nippte an meinem Pfefferminztee, denn die Einleitung des alkoholkonsuminduzierten Kontrollverlustes wollte ich mir für den späteren Abend aufbewahren. Ich war gern, wo ich herkam, ich war gern, wo ich hinfuhr, und den Radwechsel sah ich keineswegs mit Ungeduld. Ich fühlte mich ganz wohl mit mir. Keiner da, der mich fragte: "Brecht, wa?"; keiner, dem ich meine Klugheit (groß) oder meine Güte (unendlich, aber nicht unbegrenzt) demonstrieren mußte. Mit dem Kosmos einigermaßen im Einklang saß ich da, randvoll mit inneren Werten. Unterkante Oberlippe. "Ommm..." Ein kleiner Werteschwall schwappte aus meinem Mund, genau ins Pfefferminzteeglas. Igitt. Halt, halt, halt! Oberkante Unterlippe! Oberkante Unterlippe!!!

Jedenfalls bemerkte ich irgendwann, daß da schräg gegenüber noch ein Inder war. Na prima. Kaum läßt man Kreuzberg 36 ein paar Wochen aus den Augen, bums, gibt´s ´n zweiten Inder in der O-Straße. Der Laden war knackvoll, und natürlich saßen sie schon lange dort. An hellen, blitzeblanken Tischen, die Essensreste auf dezent verschmierten Porzellantellern appetitlich drapiert. Es war, als ob hier drinnen die Sonne schien. Also ziemlich ungemütlich.

Man plauderte. Der doofe Diepgen, jaja. Schönbohm, das Arschloch, klar. Umstrukturierung, böse Sache. Links-alternatives Tontaubenschießen. Schöner Sport, aber nicht mit Freunden, die man seit anderthalb Jahren nicht gesehen hat. Mir war ein bißchen langweilig.
Jetzt ging´s um eine Bekannte, "die putzt für 12 Mark die Stunde bei einem, der hat sich für mordsvielhunderttausend Mark eine Dachgeschoßwohnung gekauft. In Prenzlauer Berg. Ausgerechnet in Prenzlauer Berg! Die Sau."

"Wenn ich das Geld hätte", sprach es aus meinem Mund, "würd´ ich das auch machen. Sofort." Betretenes Schweigen. "Warum auch nicht? Besser, ich kauf da ´ne Wohnung, als wenn´s irgend so ein Arschloch tut. Besser für mich, und besser für Prenzlauer Berg." Was für ein großartiges Argument! Was für eine bestechende Prämisse: Ich bin kein Arschloch. - Sooo könne man das aber nicht sehen. "Ach so, was die Moral angeht, würd´ ich deiner Bekannten natürlich ein bißchen mehr zahlen fürs Putzen. Sagen wir, 15 Mark die Stunde. Obwohl: Ich glaub´, ich würde eher eine Türkin einstellen. Oder eine Polin. Die hamms doch ´n Zacken schwerer als so ´ne deutsche Studentin, oder? Natürlich fürs gleiche Geld. Nee, ´n bißchen mehr. 20 Mark die Stunde. Das wär´ doch okay, oder?" Irgendwie hatte ich das Gefühl, die Prämisse von gerade eben - ich bin kein Arschloch - zu zerreden. Das Gespräch wollte nicht mehr so richtig in Gang kommen, ich bestellte ein zweites Bier und trank es zügig aus.

Ich ging zu Fuß nach Hause - teils, weil ich nicht mit den andern U-Bahn fahren mochte; teils, weil ich beim Gang durch die Nacht, unbehelligt von Hunden, Autos und Berlinern, noch ein wenig an meinem Gedankengebäude zimmern wollte.

Ich legte mich aufs Bett, "zugedeckt mit nichts als mir selbst" (Solschenyzin, Archipel Gulag). Der Kontrollverlust mußte heute mal ohne mich auskommen. Morgen dann wieder. Morgen wollte ich auch am Wintergarten was tun. Und an den Erkerchen. Vor allem an den Erkerchen. Wird das Gedankengebäude eben immer barocker. Wenn´s fertig ist, stell ich sowieso dunkelbraune, verranzte Tische rein, mit bunten Öllämpchen drauf. Und an die Decke gehäkelte Lampenschirme!

Bov Bjerg

Duschke dazu: Und an die Wände Tausendfüßlergötter?

© scheinschlag 2000
Inhalt dieser Ausgabe | Home | Aktuelle Ausgabe | Archiv | Sitemap | E-Mail

  Ausgabe 04 - 1998