Ausgabe 03 - 1998berliner stadtzeitung
scheinschlag

Diese Ausgabe

Inhaltsverzeichnis


Zur Homepage

Männer an Zäunen

Während in der Spandauer Vorstadt sich die Kunst gegenseitig auf die Füße tritt, blutet der angrenzende Bezirk Wedding aus.Nur noch an vereinzelten Orten leistet man unbeirrt Widerstand.

Ein typischer Weddinger Kiez: Wilhelminische Blockrandbebauung mit fünfgeschossigen Mietshäusern, Werkstätten und einigen Remisen bilden das Karree am Nauener Platz zwischen Reinickendorfer- und Schulstraße. Und kein Aufwertungsdruck weit und breit in Sicht. Alle paar Monate hängen die Kneipen ihre grellorangen Schilder "Neue Bewirtschaftung" wieder in die Fenster, Kleingewerbe geht pleite und Gewerberaum steht ewig leer. Der Weddinger ist hart im Nehmen: Seit Jahren geht das so.

Vor urlanger Zeit, also Anfang der achtziger Jahre, entdeckten acht Künstler die Schulstraße 35, in deren zweitem Hinterhof ein Fabrikgebäude mit 200 qm Grundfläche stand: eine ehemalige Lumpenfabrik von 1908. Schon hatte die Klingbeil-Gruppe ihre begehrlichen Fänge ausgestreckt und wollte abreißen. Nur der Umschwung in der Stadtbaupolitik, die von der Kahlschlagsanierung abrückte, stoppte das Projekt. Stattdessen stießen die Künstler mit ihrem Vorschlag, dort in Selbsthilfe Atelier- und Veranstaltungsräume zu schaffen, auf halbwegs offene Ohren in der Verwaltung. Langwierige Verhandlungen folgten, schließlich konnte 1984 ein zehnjähriger Nutzungsvertrag abgeschlossen werden.
Heute zeigt sich die Lumpenfabrik instandgesetzt, aber bei weitem nicht luxussaniert. Zum Glück, denkt der Weddinger, Hackescher-Hof-Glanz wäre deprimierend.

Zur Zeit arbeiten elf Künstler in dem Gebäude. Schauen sie auf der Rückseite aus ihrer Fabrik raus, sehen sie im Blockinneren auf die Wohnungsbauten der 80er Jahre, die ihren Neubaucharme schon wieder eingebüßt haben. Die Perspektive von den umliegenden Balkonen dagegen läßt die Fabrik wie einen vergessenen wackeligen Zahn erscheinen. Wenn auch die Bausubstanz nicht marode ist, bleibt zumindest die weitere Bezahlbarkeit der Miete fraglich. Nach dem Ende des zehnjährigen Nutzungsvertrags gilt nun ein Staffelmietvertrag mit der Gesobau, deren Mietforderung sich in diesem Jahr für die meisten Künstler an der Schallgrenze des Möglichen bewegt.

Vor dem Hintergrund, daß im Wedding pro Kopf nur ca. ein Drittel dessen ausgegeben wird, was z.B. im Prenzlauer Berg für Kultur und Kunst zur Verfügung steht, bekommen die wenigen vorhandenen Kultureinrichtungen eine andere Bedeutung. Der Mann in der Weddinger Verwaltung bringt es auf Nachfragen nach dem Kulturetat ganz unverblümt auf den Punkt: Wissen Sie, die Kunst kommt bei uns ganz hinten. Wir haben hier so viele Probleme. Wenn ich da nur an die Kolonie- und Soldiner Straße denke... Für diese Aussage muß man ihm regelrecht dankbar sein. Auf offizieller Seite werden die Lobeshymnen auf die schöne Kunst mit wachsender Intensität gesungen. Ungefähr in gleicher Stärke geht der Kulturetat runter. Weit trägt das nicht. Im Gegenteil: Das Mißverhältnis zwischen Anspruch und Wirklichkeit vergrößert sich.

Vor Ort geht´s trotzdem weiter: Die Künstler haben für Samstag Dirk Josczok eingeladen, der aus seiner Kurzgeschichtensammlung Solo liest. Und worüber könnte er anders schreiben als: "Ich lauere auf Gäste. Kleine schwarze. Daumengroße. Klingen wie Kalifornische Erdnüsse, wenn man sie zerdrückt. Riecht ein wenig streng, ihr zähes, gelbes Blut. Wie am Leopoldplatz hinter den Bänken. Männer an Zäunen. Männer an Hecken. Männer in Hauseingängen. In der einen Hand die Dose, in der anderen den Ausguß. Das ist wie Hunde. Wie Graffiti. Wie die speichelfeuchten Fressen beim Flanieren eines Rocks. Das ist wie Abschied nehmen von jeder Hoffnung. Wie eiskalte Einsamkeit. Der Gentleman genießt mit sich. Die Beine eingeknickt, den Blick zum Kosmos. Acht Brikett noch. Dann ist Frühling."

Sabine Schuster

14. Februar: Dirk Josczok 20 Uhr Solo,7. März: Olaf Behrens und Susanne Schmiechen , Lesung von Ein-Minutern, Fortführung der Reihe in loser Folge

Kultur am Nauener Platz, Schulstr. 35, 2. HH., (U-Bahn Nauener Platz), Tel: 465 81 06 oder 46 20 69 12

© scheinschlag 2000
Inhalt dieser Ausgabe | Home | Aktuelle Ausgabe | Archiv | Sitemap | E-Mail

  Ausgabe 03 - 1998