Ausgabe 02 - 1998berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Aber was?

Keine Ahnung, was mich dazu treibt. Vermutlich wieder mal der Wunsch, Aufsehen zu erregen. Was total Verrücktes zu tun. Was Endgültiges. Was Unumkehrbares. Aber was? Andre Menschen kaufen sich in solchen Situationen ein Auto für achtzigtausend Mark. Auf Kredit. Ziehn sich splitterfasernackig aus und stelln sich auf den Rosenthaler Platz. Laufen Amok inner Kindertagesstätte. Das ist mir alles nix. Das ist doch ohne bleibende Wirkung.
Und auf einmal weiß ich, was ich zu tun hab. Ich hab sowas schon mal gemacht. Das letzte mal vor zehn, zwölf Jahren. Okay, ein bißchen Mut gehört dazu. Aber ich sag mir einfach: "Du schaffst das schon. Du gehst jetzt zum Friseur!"
Bloß: zu welchem?

Der russische Schuhmacher, der mir damals so günstig die Haare geschnitten hat, existiert nicht mehr. Pleite oder füsiliert, weiß der Geier.
Wo soll ich jetzt hin? Zu einem sog. Szene-Friseur? "Kaiserschnitt"? "Chez Ulf"? "Bader Andi"? Och nee. Beknackt aussehn kann ich auch billiger.
Zu einem von diesen türkischen Friseuren? Hm. Risiko. Aus den türkischen Friseurläden kommen mir zu viele Männer mit schwarzen Haaren und Schnauzbart wieder raus.
Also bleibt nur noch Asien.

Asien beginnt gleich hinterm Hauptbahnhof. Früher, als man noch die Wahrheit sagen durfte, hieß er Ostbahnhof. Dahinter, von Europa aus gesehen, beginnt die Steppe. Plattenbauten in westhimmelblau und osthöllengrau, irgendwo dazwischen eine Kaufhalle. Man weiß nie so recht, wie weit die natürliche Gnatzigkeit der Verkäuferinnen hier noch gehen wird. Was sie sich wohl als nächstes rausnehmen werden. Was sie eigentlich tun, wenn sie mit Nölen und Motzen nicht mehr zufrieden sind. Und deshalb kauft hier jeder mit geballter Faust ein, damit er, wenn´s mal darauf ankommt, wenigstens sofort zurückdreschen kann. Überall bläst der Wind, als ob gleich da hinten das Eismeer beginnt. "Straße der Pariser Kommune" - ja, das klingt nach sibirischem "savoir vivre"! Ein halbverrotteter Flachbau mit Kinderrutsche davor und Buntpapierbildchen in den Fenstern. Die Baracke wird tatsächlich noch genutzt. Ein Zeugnis unbedingten Fortpflanzungswillens.

Zwischen Bahn- und Kaufhof, begrenzt von weitläufigen Parkplatzsteppen, stehen Büdchen. Sie verramschen, was sonstwo keiner haben will: Olle Musikkassetten, buntmelierte mundgeblasne Glasvasen, vergilbte Unterwäsche "Mit Gummizug!". Ein gerissner Araber verscheuert pappige Fladen und Nudelbrei als "Pizza" und "Pasta".

"Parfüm!", schreit ein dick vermummter Verkäufer, "Parfüm! Zwanzig Liter nur hundert Mark!" Verbitterte Frauen prügeln sich um die Eimer, in denen irgendein Abfallprodukt der chemischen Industrie schwappt. Hauptsache billig und viel.

So stell ich mir Irkutsk vor. Oder weiter südlich: Wer sagt denn eigentlich, daß nicht in Wirklichkeit die Vietnamesen, die hier rumstehn, die echten Einheimischen sind?

Jetzt aber rein ins Warenhaus. Ich bin ja nicht zum Spaß hier. Freitag abend um sieben, "es ist Freitag, Junge, und die Arbeit ist vorbei, tu, was du tun willst, und du bist frei! Frei!! Frei!!!" (Oder so ähnlich.) Der Frisiersalon ist völlig leer. Nur an der Kasse steht eine Frau. Sie schaut mich fragend an. Ich sage: "Ich möchte mir die Haare schneiden lassen." Sie sagt: "Ach so." Und grinst. "Nehmen Sie Platz. Na, da kann ja einiges weg."
"Mhm." Mein Schicksal liegt in ihren Händen. "Wieviel soll ich denn abschneiden?"
"Na, viel. Ach, und wo Sie schon dabei sind: Können Sie mir bei der Gelegenheit gleich das Doppelkinn absaugen?"
"Aber gern. Gehirn austauschen auch?"
"Ja, bitte."

Sie schnippelt und saugt das Kinn ab und tauscht das Gehirn aus. Am Schluß zahl ich 17 Mark. Wo kriegt man das heutzutage noch so günstig, außer in Asien?

Bov Bjerg

Hans Duschke dazu: Die total toffte neue Dresdner Bank würdigt er keines Wortes. Typisch.

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