Ausgabe 01 - 1998berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Ist Frau Hartwig eine Hydrokultur?


"Man muß zwar nicht ausgesprochen blöd sein, um hier zu arbeiten, aber es erleichtert die Sache ungemein."

So sprach Donald Duck von Tausenden kopierten Blättern in den Büros der Ostbetriebe. Dieses oft zur Unkenntlichkeit kopierte Blatt beschreibt ebenso den maroden Charme dieser Büros wie jene Hydrokulturen, die über Jahrzehnte vor sich hingammelten, aber nie klein bei- gaben. Wenn der Parteisekretär Donald nicht erlaubte, kopierte man sich wahlweise das Blatt mit den zwei Paragraphen des Arbeitsgesetzes: ¤1: Der Chef hat immer Recht. ¤2: Wenn der Chef mal nicht recht hat, siehe ¤1. Huh. Mit meiner heutigen Erfahrung als "Büro-Spezi" bei der studentischen Arbeitsvermittlung kann ich sagen, einige dieser Büros haben die Treuhand überlebt. Mit ihnen die Hydrokulturen. Die Kopien sind verschwunden, obwohl sie durchaus noch ihre Berechtigung haben. Besonders die mit dem Chef.
Besonders die.

Im Pförtnerkabuff meiner jüngsten Vermittlung hängt ein farbiges Printout, mit einem Spruch von Konfuzius, der besagt, daß der Kunde immer Recht hat, auch wenn er Unrecht hat, da man ihm schließlich etwas verkaufen möchte.

Jeden Tag, pünktlich zur Frühstückspause, brüllt der Chef über die Flure. Die Mitarbeiter starren in ihre Kaffetassen, seufzen, flüstern. Später stürzen sich ein oder zwei auf ihre Schreibtischunterlagen und schluchzen, bemüht die Buchungssätze nicht zu verwischen. An diesem Morgen ist es Frau Hartwig, die für die Klingelanlage zuständig ist. Der Chef stand eine geschlagene Stunde vor der Tür. Eine Stunde hat er wie verrückt geklingelt und geklopft. Keine öffnete ihm. Eine Verschwörung! Ich kam mit zwei Damen von der Buchhaltung vor fünf Minuten durch eben diese Tür.

"Es hat doch aber nicht gegongt", kämpft Frau Hartwigs dünnes Stimmchen gegen das Gebrüll.

Wenn es an der Tür gongt, gongt es laut, es gongt über die Flure bis zum letzten Büro hinten links, bis zu mir. Keiner hat was gehört, keiner widerspricht. Jeder weiß, weiter als ein: "Aber Chefchen, Tschuldigung, aber es...", würde eh keiner kommen und das auch nur als Schnellsprecher. Hat doch keinen Zweck, erklärt mir Lisa später, eine andere Studentin, die mir gegenüber sitzt. Lisa ist schon seit einigen Wochen hier und meine Lieblingskollegin.

Wenn sie morgens ins Büro hetzt, brüllt sie nicht. Wenn Lisa morgens kommt, sagt sie: "Mojn", schaltet den Computer an, reibt sich die Hände, lächelt versonnen und sagt: "Oh man, die Kacke ist ja mal wieder richtig am dampfen.". Der Satz wiederholt sich ungefähr zu jeder vollen Stunde. Genau habe ich das noch nicht beobachten können, aber ich bin sicher, daß ein System dahinter steckt. Bei Lisa hat alles System.
Die Kacke dampft irgendwo in den backup-files oder im server oder so. Und wenn die Kacke wegen Systemüberlastung mal völlig abstürzt, beginnt Lisa manchmal, etwas überirdisch zu schimmern. Dann stakst sie wie Sigourney Weaver, umzingelt von Aliens irgendwo im Trion-System, vor zum Pförtnerkabuff und spricht über die Sprechanlage mit fester Stimme, die erkennen läßt, daß es diesmal wirklich ernst ist:
- nein, nicht das mit der Kacke -

"Alle bitte augenblicklich aus der Zeiterfassung gehen, ich wiederhole ..."

Dann geht es mit System in den Kampf gegen sämtliche Systeme in einem einsamen Kampf, genau wie Sigourney im Trion-System. Und genau wie Sigourney die ganze Zeit auf die Aliens einredet, ohne daß die überhaupt Ohren haben, redet Lisa mit ihrem Computer. Das beginnt morgens mit: "Heute ist" - genau - "die Kacke mal wieder am Dampfen", über: "das hast du dir so gedacht" und "jetzt hab ich dich" bis "jetzt schalt ich dich aber ab".

Manchmal meint ein Satz in dem nicht abreißenden Gemurmel: mich.
"Sag mal, kannst du mal in den nächsten zwei Sekunden aus der Zeiterfassung rausgehen?"
"Äh, wer, ich?"
"Siehst du hier noch jemand anderes?"
Es hätte gut auch der Computer sein können. Aber man kann nie wissen. Deshalb laß ich für gewöhnlich immer ein Ohr bei ihr.

Ich hätte meinen Spaß mit dem Chef, wenn die Kolleginnen nicht immer alles so persönlich nehmen und ständig losheulen würden. Ich sehe meinen Chef eher als etwas überzeichnete Comicfigur und will immer applaudieren, wenn er wie ein Amokläufer durch die Räume schießt. Außerdem sind der Chef und ich die einzigen Nichtraucher in der Firma. Darum müssen sich die anderen Kollegen alle halbe Stunde anziehen, mit Schal und Mütze und so, und dann zum Rauchen vor die Tür. Ein Drittel der Belegschaft ist eigentlich immer am an- bzw. ausziehen und rauchen. Wenn der Chef unterwegs ist, bin ich manchmal ganz allein. Der Chef und ich. Auch mögen wir es nicht, wenn auf dem Clo geraucht wird. Da hat er neulich Verbotsschilder aufgehangen, das fand ich gut. Gut finde ich auch, daß die Damen bevor der Chef kommt, so anmutig mit Raumspray durch die Räume hüpfen, weil ihre Klamotten so nach Rauch stinken. Nicht so gut finde ich, daß sie mir dabei immer sagen, ich solle doch meine Stifte gerade hinlegen. Ich schwör's lieber Leser, ich schwöre, das machen sie wirklich. Nach meinen Erfahrungen in verschiedenen Büros frage ich mich manchmal, ob Erfolg mit Cholerik zusammenhängt oder umgekehrt.

Das es heute gerade Frau Hartwig sein mußte, tut mir wirklich leid. Gerade sie, die immer noch Arbeit mit nach Hause nimmt und dann erst richtig loslegt, ohne Bezahlung. Die Damen sind alle um die fünfzig, wohnen in Baumschulenweg und Schöneweide und kennen den Arbeitsmarkt aus ihrem Bekanntenkreis. Ich lege Frau Hartwig behutsam eine Hand auf den zuckenden Rücken und versuche:
"Der Chef weiß gar nicht, was er an ihnen hat, Frau Hartwig."
"Das weiß er sehr wohl, das Schwein", sagt sie und wischt mit ihren Tränen über die Buchungssätze.

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